SWR2 Wort zum Tag

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Er bevorzugte mal wieder sie. Kein Wunder. Sie war ja auch die Stillere, Sanftere der beiden Schwestern. Sie war es, die ihm zu Füßen saß und zu ihm aufschaute. Manche würden sagen: ihn anhimmelte. Die andere Schwester war wütend. Und gekränkt. Denn von ihr sagten die Leute, sie sei tüchtig. O, wie sie das hasste: All die mitleidigen Schwingungen in diesem Wort, so nach dem Motto: Wer sonst nichts Attraktives zu bieten hat, muss eben tüchtig sein ... Dieser neidische Unterton, als sei es irgendwie störend, wenn jemand gut organisiert, zupackend, pragmatisch war. Als hätte sie keine Träume, keine Kreativität, keine Phantasie. Sondern nur die Kehrwoche im Kopf. „Herr, fragst du nicht danach, das mich meine Schwester allein lässt dienen?“ Marta will es wissen: Merkt Jesus denn gar nichts?

Maria und Marta: Zwei Schwestern aus dem Jüngerkreis. Das Lukasevangelium erzählt von ihnen. Jesus, der Wanderprediger, findet eine Zeitlang bei ihnen ein Zuhause.

Die aktive Marta und die passive Maria, die Tüchtige und die Hörende, die Geschäftige und die Ihm-zu-Füßen-Ruhende. In den Auslegungen wird ihre Gegensätzlichkeit ausgemalt. Es kommt zu einer Typisierung, die eindeutig der sanften, zuhörenden Maria den Vorzug gibt. Nur selten wurde dieser Art, diese Geschichte zu lesen, widersprochen. Mit ziemlich weitreichenden Wirkungen, bis heute: Wer in der Bewertung auf der Marta-Seite landet, gehört zu der Sorte praktischer, handfester, ein bisschen unaufregender Frauen. Mit Maria-Punkten ausgestattet ist man attraktiver. Und schon ist er da, der Schwesternstreit ... - Aber lässt sich wirklich die eine so gegen die andere ausspielen?

Die Ehre des ersten Einspruchs gebührt erstaunlicherweise nicht einer feministischen Bibelleserin, sondern dem Mystiker Meister Eckart. Er versuchte um 1300 eine radikale Neuinterpretation der Geschichte der beiden Jesus-Jüngerinnen: Für ihn ist Maria die Verkörperung des noch unfertigen Menschen am Anfang des geistlichen Lebensweges, als die in geistigen und geistlichen Dingen reifere Person gilt ihm die Marta. Er schreibt: „Marta fürchtete, dass ihre Schwester im Wohlgefühl und in der Süße stecken bliebe.“ Marta wünsche sich, so Meister Eckart, dass Maria werde wie sie selbst und zur Einheit von tätiger Liebe und empfangendem Glauben fände.

Beides gehört zu einem christlichen Leben, meine ich. Mit Typisierungen und künstlichen Gegensätzen kommt man nicht weiter: Zupacken oder Zuhören sind keine Alternativen, die sich ausschließen, sondern zwei je nach Situation notwendige Reaktionen. Es kommt darauf an, was „dran“ ist. Im geistlichen wie übrigens auch im alltäglichen Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6273
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