SWR2 Wort zum Tag

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Die chilenische Dichterin Gabriela Mistral beginnt eines ihrer Gedichte mit den Worten:
„Wenn du mich anschaust, werd’ ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau“.
Und sie spricht davon, wie sie, die die Makel ihres Körpers kennt, vom liebenden Blick des Freundes verwandelt. wird. „Wenn du mich anschaust, werd’ ich schön“.
Vielleicht kennen Sie auch das andere; das Gefühl: wenn dieser Mensch mich anblickt, fühle ich mich hässlich, nicht wohl in meiner Haut.
Aber ist es nicht einfach dumm, sich und den eigenen Wert so abhängig zu machen vom Blick eines andern Menschen? Woher kommt denn mein Wert? Von außen oder von innen? Vom Urteil anderer?
In der Philosophie gibt es den Gedanken, daß alles immer nur existiert, wenn und solange irgendjemand es anschaut. Was nicht angeschaut wird, existiert nicht.
Irgendwie ist da was dran. Ich bin auf die Dauer nur lebendig, wenn ich nicht nur für mich existiere, sondern auch in den Augen anderer. Die müssen noch gar nichts tun, aber mich ihres Blickes würdigen. Nicht umsonst ist es so vernichtend, buchstäblich zu Nichts machend, wenn mich niemand eines Blickes würdigt. Und deshalb tut das andere so gut, die Erfahrung, von der das Gedicht spricht: jemand sieht mich nicht nur, sondern unter seinem, unter ihrem Blick kann ich aufblühen, kommt das Schöne in mir zum Vorschein, manchmal nur für diesen einen Menschen, manchmal merken es auch noch andere. Da lässt mich jemand wirklich spüren: Ich sehe in dir dein Geheimnis. Ich sehe in dir deine Einzigartigkeit. Ich sehe in dir, was niemand sonst sieht. Ich sehe in dir unter allen körperlichen Unzulänglichkeiten etwas, das für mich liebenswert ist, und das überstrahlt alles. „Senk lange deinen Blick auf mich“, sagt Gabriela Mistral gegen Ende ihres Gedichtes. Dieser Blick schenkt Freude, dieser Blick weckt Kräfte, dieser Blick lässt leben.
Vielleicht spricht auch deshalb eine der ältesten Bitten in der Bibel davon, daß Gott den Menschen anschauen möge.
„Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir“, heißt es dort, oder noch einfacher:
„Der Herr wende sein Angesicht dir zu“.
Von Gott angeschaut werden. Davon lässt sich leben. Daraus kann ich wachsen.

(Gabriela Mistral, Wenn du mich anschaust, werd’ ich schön., München 1991, 31)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=6254
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