Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Das Gedicht hat es in sich. Es steht „Gebet“ drüber. Und es klingt nach Gebet. Aber irgendwas stimmt trotzdem nicht. Das „Gebet“ geht so: „Lieber Gott, nimm es hin, / daß ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / daß ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.“ (Robert Gernhardt: Gedichte 1954-1994, Zürich 1996, 37.). „Gebet“ ist von dem Schriftsteller Robert Gernhardt. Und für viele gläubige Menschen ist dieses Gedicht einfach unmöglich. Es veralbert Religion, den Glauben, sagen die einen. Andere sagen: Es macht sich über Gott lustig, es lästert Gott. Manche verweisen auf die zehn Gebote. Dort heißt es: Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. (Exodus 20,7) Doch dem Gedicht, so meine ich, geht es gar nicht um Gott, sondern um den Menschen.
„Lieber Gott, nimm es hin, / daß ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / daß ich klüger bin als du.“ Im Mittelpunkt steht hier jemand der betet. Aber er bittet nicht, er klagt nicht – er will einfach nur, dass Gott einsieht, wie toll er ist. Und ehrlich: So Typen kenne ich auch, die von sich überzeugt sind, sich für etwas besseres, etwas besonderes halten. Allerdings treibt Gernhardt das auf die Spitze, übertreibt maßlos. Denn der Schlusssatz lautet ja: „Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.“ Hier wird vollends klar: Das ist kein Gebet. Sicher: Der Dichter Gernhard unterlegt seinen Text mit einer Sprache, die irgendwie nach einem traditionellen Gebet klingt: Lieber Gott, den Namen preisen, Amen. Aber alles dreht sich nur um einen Menschen, der sich an die Stelle Gottes setzt. Und genau dadurch hält der Dichter mit seinem Gebet uns Menschen eine Spiegel vor. Fragt: Wo halte ich mich für einen Gott? Wo setze ich mich an oberste Stelle? Wo glaube ich, die Welt kreise nur um mich?
Heute vor drei Jahren starb Robert Gernhardt. Ich würde viel darum geben, zu wissen, ob der liebe Gott mit ihm über sein Gedicht diskutiert. Oder ihm einfach nur auf die Schulter klopft und sagt: Du bist wirklich was Besonderes.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6251
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