SWR3 Gedanken

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„Du, Frau Wüst, du hast Lilli nicht begrüßt.“ Vorwurfsvoll zeigt die kleine Tabea auf den Stuhl neben sich. Der ist offensichtlich leer. „Ach, da sitzt Lilli?“ frage ich vorsichtig. „Ja, wir trinken zusammen Kaffee“, sagt Tabea und hat diesen Blick, der sagt: Erwachsene kapieren aber auch gar nichts.

Wir haben zur Zeit vierundsiebzig Kinder in unserer Kindertagesstätte. In Wahrheit müssten es weit über hundert sein. Wenn man all die Kinder mitzählt, die nur Kinder sehen können. Unsichtbare Freundinnen und Freunde. Mit denen man erzählen, spielen und streiten kann. So als wären sie wirklich da.

Nun könnte man sich ja Sorgen machen. Wer imaginäre Freunde braucht, findet vielleicht keine echten. Aber bei Tabea stimmt das nicht. Sie hat in ihrer Gruppe guten Kontakt und zu Hause zwei ältere Geschwister. Und eben ihre unsichtbare Freundin Lilli. Die selbstverständlich einen eigenen Teller beim Abendessen braucht.

Forscher haben herausgefunden, dass imaginäre Freunde und Freundinnen bei Kindern zwischen drei und sieben Jahren alles andere als besorgniserregend sind. Ganz im Gegenteil. An ihnen lernen und erfahren Kinder eine Menge.

Wenn Tabea mit Lilli Kaffee trinkt, übt sie Konversation, Tischsitten und aufeinander Rücksicht nehmen. Und wenn die unsichtbare Lilli eine Tasse runterwirft, dann darf Tabea Mama spielen und milde schimpfen. Die unsichtbare Freundin ist sozusagen eine Sparringspartnerin fürs wirkliche Leben. Ein Übungsfeld für die wirklichen Freunde und Freundinnen.

Vermutlich wird Lilli irgendwann einfach verblassen und verschwinden. Weil Tabea keine Rollenspiele mehr braucht, weil sie ihre Rolle im Leben gefunden hat. Aber bis dahin grüße ich Lilli sehr höflich und achte darauf, mich nicht einfach auf einen leeren Stuhl zu setzen. „Da sitzt Pippo“, sagt dann nämlich Tabea, „und du darfst dich nicht auf ihn drauf setzen.“
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