SWR2 Wort zum Tag

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Die Höri, die malerische Halbinsel am Bodensee, ist für mich immer wieder ein inspirierender Ort. Viele Künstler haben dort gelebt, auch der Schriftsteller Hermann Hesse. Im Höri-Museum in Gaienhofen ist seinem Lebenswerk ein großer Bereich gewidmet.
Dort ist mir jetzt ein Buch aufgefallen mit dem Titel: „Mit der Reife wird man jünger“. Es enthält Gedichte und Betrachtungen von Hermann Hesse über das Alter. „Mit der Reife wird man jünger“: Dieser Satz hat mich sofort in Beschlag genommen, weil er in sich vieldeutig und spannungsreich ist. Mit dem Wort „Reife“ verbindet man gemeinhin das Alter – und dass man mit zunehmendem Alter jünger werden könnte, ist in sich schon widersprüchlich. Oder auch nicht? Und dann – mein zweiter Gedanke -, stimmt das überhaupt, dass Alter und Reife einfach dasselbe sind? Können nicht auch alte Menschen unreif bleiben, während Jüngere oft schon eine beachtliche Reife und Lebenserfahrung aufweisen? Und können nicht tatsächlich alte Menschen wirklich jung sein und bleiben, während Junge oft schon erschreckend alt sind – in ihrem Denken und Fühlen, in ihrer Art, das Leben zu sehen, anzunehmen, zu gestalten?
Sind also Altsein und Jungsein nicht auch relative Zuschreibungen? Hesse sagt einmal: „Es gibt eigentlich jung und alt nur unter Dutzendmenschen; alle begabten und differenzierteren Menschen sind bald alt, bald jung, so wie sie bald froh, bald traurig sind.“
Worin könnte die Reife bestehen, die Menschen mit zunehmendem Alter jünger werden lässt? Könnte sie eine Grundhaltung dem Leben gegenüber sein, die Bundespräsident Horst Köhler vor wenigen Tagen so formuliert hat: „Je älter ich werde, desto neugieriger werde ich“? Könnte es diese Offenheit für das stets Neue im Leben sein, die Offenheit auch für die Menschen, die mir begegnen? Könnte diese Reife, die mich jünger werden lässt, auch bedeuten: Ich gebe dem Ungewohnten Raum – auch dem Schmerzlichen, den Belastungen und Einschränkungen, die das Leben und besonders das Älterwerden eben auch mit sich bringen? Und ich stehe nicht unter dem Zwang, dies alles sofort überschauen und beherrschen zu müssen? „Mit der Reife wird man immer jünger“ – ich sehe darin vor allem die Chance, innerlich freier zu werden. Dafür ist man nie zu alt und nie zu jung. https://www.kirche-im-swr.de/?m=6144
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