SWR2 Wort zum Tag

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Die junge Frau ist bildschön und von einer tiefen Sehnsucht erfüllt: Einmal die große Liebe zu finden. In ihrem Roman „Die Frau im Mond“ erzählt Milena Agus von dieser Frau, die sich nach Liebe verzehrt. Es ist ihre Großmutter. Allerdings interessiert sich kein Mann dauerhaft für die sardische Bauerntochter. Zwar trifft sie sich schon als junges Mädchen mit Männern – aber häufig nur ein Mal. Das wundert alle, bis herauskommt: Die Großmutter schreibt ihren Verehrern feurige Liebesbriefe. Das schreckt die Männer ab. Und für ihre Familie ist klar: Eine solche Sehnsucht nach Liebe, die ist einfach teuflisch, die Tochter, das ist für alle klar, ist verrückt, ein Fall für die Psychiatrie.
Am Sonntag, so erzählt ihre Nichte, ging Großmutter „in die Kirche, um Gott zu fragen, warum er nur so ungerecht sei und es ihr verwehre, die Liebe kennenzulernen. Die Liebe sei doch die herrlichste Sache der Welt, die einzige, die es wert sei, ein Leben zu führen.“ Und dann nimmt sich die Großmutter Gott zur Brust. Sie sagt in der Beichte: „Wenn Gott nicht bereit sei, sie mit der Liebe bekannt zu machen, soll er sie eben sterben lassen.“
Der Priester meint, es gebe noch viele anderen Dinge, für die sich zu leben lohnt. Aber der Großmutter, so schreibt Milena Agus, konnten all diese Dinge gestohlen bleiben.
Ist das Leben nur wertvoll, wenn Liebe im Spiel ist? Ist es verrückt, sich nach Liebe zu sehnen? Ich glaube nicht. Sich nach Liebe zu sehnen, das sollte vielmehr das Normalste von der Welt sein. Paulus sagt: „Wenn ich allen Glauben besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“. (1 Kor 13,2)
Ich glaube: Die Sehnsucht nach Liebe macht den Menschen zum Menschen. Und es ist richtig, sich nach der großen Liebe des Lebens zu sehnen. Nach einer Liebe, die mir sagen kann: Gut, dass es dich gibt – du lässt mich leben.
Aber manchmal kommt diese Liebe anders zu einem, als man sich das denkt. So zum Beispiel auch bei der Großmutter. Sie heiratet auf Druck der Familie einen Flüchtling vom Festland. Redet kaum mit ihm, verbringt aber ihr ganzes Leben an seiner Seite. Scheinbar ist es nicht die ersehnte Liebe, die sie mit ihm erlebt. Aber ich als Leser bekomme den Eindruck: Da lieben sich zwei, kriegen es aber selbst gar nicht richtig mit.
Für mich heißt das: Sehnsüchte sind gut und wichtig – aber du musst wach sein, weil sie sich vielleicht anders erfüllen, als gedacht.

Milena Agus: Die Frau im Mond, München 2009 (dtv)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6134
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