SWR2 Wort zum Tag

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Vor genau 67 Jahren bekommt sie ein Geschenk, dass die Welt verändern wird. Sie, das ist Anne Frank, eine Jüdin aus Frankfurt am Main, die mit ihrer Familie vor den Nazis nach Amsterdam geflohen ist. Und das Geschenk für die Dreizehnjährige: Ein rot-weiß kariertes Tagebuch. Noch an ihrem Geburtstag macht sie ihren ersten Eintrag, dem unzählige folgen werden. Anne Frank erfindet sich für das Tagebuch eine Freundin, Kitty. Ihr vertraut sie ihre Gedanken an, beschreibt ihren Alltag, reflektiert über Gott und die Welt, Liebe und Sexualität.
Schreiben, das wird für Anne Frank lebensnotwendig. Es macht sie frei und leicht. In einem Eintrag vom 16. März 1944 hält sie fest: „Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken.“
Kein Wunder, die Familie lebt in einem engen Versteck, immer ist die Angst da, entdeckt zu werden. Und Anne schreibt und schreibt.
Heute gelten ihre Texte als stellvertretende Zeugnisse für Menschen, die Ungerechtigkeit erfahren und die gelitten haben. Aber es gibt auch noch eine andere Seite: Indem Anne schreibt, besiegt sie die Ungerechtigkeit und Angst, die Situation der Verfolgung. Zum einen, weil ihre Aufzeichnungen sie selbst und ihre Familie sehr menschlich zeigen. Die Nationalsozialisten wollten aber die Juden um jeden Preis entmenschlichen. Kein Wunder, sie sahen sie schließlich auch nicht als Menschen an. Anne Frank straft dieses Konzept Lügen. Ihr Tagebuch sagt: Wir sind Menschen, wir sind menschlich, mit Stärken und Schwächen, mit Ecken und Kanten, auch in Verfolgung und Angst. Zum anderen: Anne Frank schreibt nur etwa zwei Jahre lang, dann wird das Versteck der Familie entdeckt. Mit gerade mal 15 Jahren kommt sie nach Auschwitz ins Konzentrationslager. Und stirbt, wenige Wochen vor Kriegsende, im März 1945. Dass wir heute noch ihr Tagebuch lesen können, das empfinde ich als einen unglaublichen Triumph über die Gewaltherrschaft des Nazis. Es sagt ganz einfach: Menschen können ausgelöscht werden können, aber ihre Ideen, Gedanken, Wünsche und Träume lassen sich nicht ausrotten.
Heute, am 12. Juni, würde Anne Frank ihren 80. Geburtstag feiern. Ich werde ihr zu Ehren in ihrem Tagebuch lesen und an sie denken. Herzlichen Glückwunsch, Anne Frank.


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