SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

In San Franzisko, so stand in der Zeitung zu lesen, sprang ein Mann von der Golden Gate Bridge. Er hinterließ als Abschiedsbrief einen Zettel. Auf dem stand: „survival of the fittest – adiós – unfit“.

Übersetzt heißt das ungefähr: „Der Fitteste überlebt – lebt wohl! – einer, der nicht fit war“.
Wenn die Messlatte für das, was lebenswert und liebenswürdig ist, so hoch gelegt wird, dass Menschen nur noch unter dieser Latte hindurch laufen können, dann wird Fitness brutal und der Überlebenskampf tödlich.
Als junger Pfarrer in Heidelberg, ich hatte gerade meine erste Stelle angetreten, bekam ich mit, wie der Küster, der in der Sakristei aufräumen wollte, etwas in den Mülleimer warf.
Später schaute ich nach und fand eine Christusfigur, wie sie im Original von dem dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen stammt und in der Liebfrauenkirche in Kopenhagen steht.

Ich holte die Figur aus dem Mülleimer und habe sie bis heute behalten. Alle meine Umzüge hat sie mitgemacht. Heute steht sie auf meinem Bücherschrank: der segnende Christus, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft.

„Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, das drückt er in seiner Körperhaltung aus. Die geöffneten Arme, die denen eine Zuflucht geben, die sonst nirgends eine haben.
Wie gut denke ich, dass es diese offenen Arme gibt! Hier lerne ich eine andere Wertordnung kennen als das Prinzip, wonach nur der Fitteste überlebt. Sie lautet: „Selig sind, die reinen Herzens sind. Selig sind, die da Leid tragen. Selig sind die Sanftmütigen.“
Vielleicht ist das heute eine Frau, die das Lächeln nicht verlernt hat, obwohl sie manche Nacht am Bett ihres kranken Kindes gewacht hat. Vielleicht ist das ein Schüler, der sich auf dem Pausenhof auf die Seite eines Klassenkameraden stellt, der sonst immer nur von anderen gehänselt wird. Vielleicht ist das ein Mensch, der unter einer schweren Krankheit leidet, und dennoch seinen traurigen Angehörigen Trost zuspricht.
Niemand muss von einer Brücke springen, wenn er weiß, es gibt diese offenen Arme. Da bin ich willkommen und angenommen, wie ich bin. Da ist ein Zufluchtsort, der zum Ort eines neuen Aufbruchs werden kann. Erquickt und gestärkt und erfüllt mit neuer Zuversicht kann ich von da aus zurückgehen in meinen Alltag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6107
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