SWR2 Wort zum Tag

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„Gerechtigkeit macht ein Volk groß, aber Unrecht richtet es zugrunde.“
Sprichwörter sind keine Binsenweisheiten, sondern bewahren tiefsinnige Lebenserfahrungen auf. Auch die Erinnerung an die Gerechtigkeit, die ein Volk auszeichnet, ist keineswegs banal. Wäre es anders, so würde sich Gerechtigkeit von selbst durchsetzen und wir müssten nicht durch Sprichwörter daran erinnert werden.
„Gerechtigkeit macht ein Volk groß, aber Unrecht richtet es zugrunde.“ – Das ist ein Wort aus dem biblischen Buch der Sprüche, ein Sprichwort, eine Volksweisheit, deren Wahrheit sich aus Erfahrung speist.
Es ist traurige Tatsache, nicht nur im alten Israel, dass Recht immer wieder gebeugt wird und die Rechte von Menschen mit Füßen getreten werden. Daher macht die Rede von der Gerechtigkeit Sinn. Denn Gerechtigkeit ist mehr als das, was in dicken Gesetzesbüchern in Paragraphen festgeschrieben ist. Es ist auch mehr als das, was als oberstes Recht in einem Grundgesetz kodifiziert ist. Gerechtigkeit ist der Geist allen Rechts; dessen Sinn und Substanz.
Gerechtigkeit hat viele Gesichter. Häufig verstehen wir Gerechtigkeit im Sinne einer Leistungsgerechtigkeit: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.“ Wer etwas leistet, der soll dafür auch angemessen entlohnt werden. Es gibt aber auch so etwas wie Chancen- oder Verteilungsgerechtigkeit. Mancher, der etwas leisten will, kann sich nicht einbringen, ist nicht gefragt am Markt. Und mancher bringt seinen vollen Einsatz und bleibt in seiner Leistung doch hinter anderen zurück.
Gerechtigkeit bedeutet, dass jedem die gleichen Bildungschancen offen stehen. Aber wie wird ein Lehrer seinen Schülern „gerecht“? Und zwar jedem einzelnen mit seinen Schwächen und Begabungen, mit seinen Leistungen und Lernbehinderungen.
Noch schwieriger wird es mit der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Lebensstile gepflegt werden. Da erfordert Gerechtigkeit, dass etwa Christen und Muslime ihren Glauben gleichermaßen leben und bekennen können. Und dass niemandem Nachteile entstehen, wenn er seine Religion ernst nimmt – zum Beispiel am Arbeitsplatz.
Gerechtigkeit ist ein Wert. Es zeichnet eine Gemeinschaft – im biblischen Sprichwort: ein Volk – aus, für diesen Wert empfindsam zu sein. Gerechtigkeit wird nicht einfach hergestellt, als ginge es um ein Produkt. Sicher muss für Gerechtigkeit gekämpft werden. Aber kein Staat, kein Gericht, kein Rechtskodex, keine Partei, keine Kirche verfügt über das rechte Maß an Gerechtigkeit. Wir sind auf Einsicht angewiesen. Gerechtigkeit wird erinnert und eingeübt. Sie wird erlernt. Lebenslang.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6049
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