SWR2 Wort zum Tag

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Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat einmal formuliert: „Schreiben heißt: sich selber lesen.“ ( GW II, Tagebuch 1946-1949, S.378 f.) Das gilt in besonderer Weise für Tagebücher. Viele – und ich gehöre auch dazu – schreiben auch aus diesem Grund Tagebuch – regelmäßig oder auch nur sporadisch. Wer Tagebuch schreibt, liest in seinem Leben.
Manchmal auch mit einer fatalen Nebenwirkung: Denn Schreiben kann fest schreiben, kann Schuld zuschreiben. Wie viele Briefe wären besser nicht geschrieben – oder zumindest nicht abgeschickt worden – weil sie Streit festgeschrieben haben. Aber Tagebuchschreiben kann auch befreien, kann ein Losschreiben sein. Was macht den Unterschied aus?

Ein einziges Mal – wenn ich richtig sehe – hat Jesus in der Bibel etwas geschrieben. Was genau, das ist unbekannt. Es heißt nur: „Er bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde.“ Und genau dieses Schreiben hat Festschreibungen verstummen lassen. Wie das?

Männer bringen eine Frau zu Jesus. Die soll angeblich Ehebruch begangen haben. Nun sind sie gespannt: „Was sagt Jesus dazu? Wenigstens die muss doch - bei aller Liebe – verurteilt und bestraft werden!" Aber Jesus sagt kein einziges Wort. Es heißt eben nur: „Er bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde.“ Nur ein Ablenkungsmanöver? Die Ankläger lassen nicht locker. Jesus soll Stellung beziehen.
Aber Jesus schreibt lautlos mit dem Finger in den Staub. Aber was? Ich habe eine Vermutung. Was auch immer Jesus in den Sand geschrieben hat - es ist wie eine Einladung gewesen: Lest in eurem Leben! Denn dazu fordert Jesus die Ankläger auf. Er richtet sich auf, heißt es, und fragt in die Runde: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Sagt das - bückt sich wieder - und schreibt weiter – in die Erde.
Und dann beginnen die Ankläger offenbar in ihrem eigenen Leben zu lesen, in ihren Irrungen und Wirrungen, vielleicht auch im Leben der Frau. Sie verstummen – bedrängen die Frau nicht weiter, sie verziehen sich lautlos.

Jesus schreibt in den Sand! Nicht auf Papier, nicht auf steinerne Tafeln – nicht dokumentenecht. Sein Schreiben eröffnet ein Lesen im eigenen Leben - ohne Zwang zur Rechtfertigung. Jesus schreibt nicht fest. Sein Schreiben und seine Frage eröffnen einen freien Blick auf das eigene Leben.
So kann Tagebuchschreiben sein, eines, das weiterführt - schon beim Schreiben. Nur nicht sich festbeißen in Gefühlen und Erinnerungen von einst! Nicht andere festschreiben in Schuldvorwürfen. Nicht versteinern! Sondern: Tagebuch führen wie in den Sand geschrieben - für ein neues Leben, das kommt.
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