Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Regungslos liegen sie da: Menschen im Wachkoma. Ihr Gehirn ist durch einen Unfall oder eine Krankheit sehr schwer geschädigt . Sie können nicht sprechen, sich nicht willkürlich bewegen und nehmen ihre Umgebung anscheinend nicht wahr. Viele dieser Menschen leiden erkennbar ganz erhebliche Schmerzen, sie leben keineswegs in einer entspannten Ruhe. Mit großem Auf-wand werden sie versorgt, umfangreiche Therapien versuchen ihnen wenigstens einen Teil ihrer Fähigkeiten zurückzugeben. Aber viele Menschen erwachen nie aus dieser Ohnmacht .
Die Besuchergruppe, die in einem Caritas-Pflegeheim die Wachkoma-Patienten besucht, ist sichtlich betroffen. Einer fragt den Heimleiter: „Was ist das für ein Leben, gefangen im eigenen Körper, ohne Hoffnung auf Besserung ? Ist das nicht sinnlos?“ Der Heimleiter antwortet: „Es genügt, dass Sie diese Menschen wahrnehmen.“
Nur allmählich verstand ich die Antwort des Heimleiters. Wahrnehmen meint nicht nur „Hinse-hen“. Wahrnehmen meint: die Wahrheit annehmen, die die Menschen im Wachkoma anbieten. Ich will nicht in das Leid der Menschen im Wachkoma einen geheimen Sinn hineindenken, der ihre Not überspielt oder unzulässig verkleinert. Aber diese Menschen bieten mir die Einsicht an, dass sie, selbst in dieser Situation äußerster Abhängigkeit und Inaktivität, Menschen mit Würde sind, Menschen im vollen Sinn. Ich kann mir das gedanklich klar machen. Aber ich verstehe es tiefer und besser, wenn ich einem solchen Menschen wirklich begegne und ihn wahrnehme.
Die Wahrheit von der bleibenden Würde eines jeden Menschen ist wichtig, weil sie den Blick verändert auf Menschen mit Behinderungen, auf Gebrechliche, auf körperlich, seelisch oder sozial deutlich eingeschränkte Menschen. Es ist eine Wahrheit für alle. Sie entlastet alle, die sich fragen, ob sie mit ihren kleinen oder großen Mängeln und Einschränkungen noch Anspruch auf Würde und Respekt haben. Dabei zwingen die Wachkoma-Patienten diese Wahrheit nicht auf, sie bieten sie nur an. Wir müssen sie schon selbst annehmen.

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