SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Gibt’s den auch mal ohne Gerüste?“ fragt die Frau auf dem Marktplatz, zeigt auf den Mainzer Dom und seinen eingerüsteten Turm. Im Vorbeigehen schnappe ich die Frage auf. Sie lässt mich nicht los. Der Mainzer Dom feiert 2009 seinen tausendsten Weihetag. Aber fertig ist er in diesen 1000 Jahren nie geworden. Kein Wunder. Sicher, im Jahre 1009 scheint der Dombau schon einmal abgeschlossen. Jahrzehnte haben Menschen an dem Gebäude gearbeitet, in dem mehr Menschen Platz haben als Mainz Einwohner – aber in der Nacht vor der Eröffnung brennt der riesige Dom fast völlig ab. Und wieder machen sich Menschen an die Arbeit, bauen den Dom erneut auf. Die Geschichte wiederholt sich. Mehrmals steht der Dom im Laufe der letzten tausend Jahre in Flammen, wird beschossen, zweckentfremdet. Er dient als Magazin und Lazarett. Aber jedes Mal wird er auch wiederaufgebaut, renoviert. Immer wieder sagen Menschen: Wir brauchen den Dom, wir setzen ihn in Stand. Bis heute arbeiten wir an diesem Dom.
Ich finde das ein tröstliches Bild. Das Leben, mein Leben erlebe ich oft auch als unfertigen Bau. Manchmal wird viel aufgebaut, es geht vorwärts, ich erreiche manche Ziele, anderes fällt mir in den Schoß, ich habe Erfolg. Und so baue ich Säule um Säule an meinem Leben, arbeite an meinem Leben. Und dann wieder geht’s überhaupt nicht weiter. Ich fühle mich leer, die Ideen fehlen. Ich suche Arbeit – und handle mir Absagen ein. Ich setze mich mit andern auseinander – und schaffe es nicht, mich durchzusetzen. Aber immer wieder darf ich auch erleben, dass ich aufgebaut werde. Durch ein gutes Gespräch mit Freunden. Durch die Natur, die gerade jetzt im Frühling wieder aufblüht. Durch die Zeit, die doch manche Wunden heilt.
„Gibt’s den auch mal ohne Gerüste?“ fragt die Frau, als sie auf den Mainzer Dom und seinen eingerüsteten Turm zeigt. Das nicht – und das eigene Leben gibt’s, glaube ich, auch nicht ohne Gerüste. Das Leben ist immer wieder eingerüstet. Das heißt: Im Bau, wird erweitert, dann wieder renoviert, repariert, manches ist kaputt oder geht kaputt und muss wiederhergestellt werden. Die Arbeit am eigenen Leben dauert lebenslang. Aber die Gerüste dafür sind auch als Stützen wichtig. Sie helfen mir, mein Leben zu leben, weil ich merke: Ich werde unterstützt. Und kann durch diese Unterstützung leben.
Am Tag der Arbeit auf die Arbeit am eigenen Leben hinzuweisen, das ist sicher nicht üblich. Heute geht es mehr um die Berufsarbeit, die ja gerade im Moment für viele ziemlich bedroht ist. Es geht um den drohenden Arbeitsplatzverlust – und das Recht auf Arbeit. Sicher: Darunter ist nicht das subjektive Recht des Einzelnen auf einen konkreten Arbeitsplatz zu verstehen. Gemeint ist damit, dass der Staat alles tut, damit Menschen Arbeit haben, diese behalten können und in ihrer Arbeit vor Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt sind. Aber angesichts von mehreren Millionen bleibt doch die Frage, ob dieses Recht wirklich ernst genommen wird. Mehr noch: Ob der Einzelne und seine Sorgen um den Arbeitsplatz nicht doch wenig zählt. Mehr gilt offensichtlich im Moment doch die Bank, die Pleite geht. Hierfür macht die Politik schnell ein paar Milliarden locker. Geld, das vielleicht viel besser in Arbeitsplätze und Zukunftstechnologien investiert worden wäre.
Arbeit haben ist aber eben auch nicht alles. Bei allem Kampf um Arbeitsplätze will ich das nicht vergessen. Zum Leben gehört auch die Arbeit an sich selbst. Ich merke immer wieder: Ich selbst bin unfertig, kann mich entwickeln. Und das ist in der Regel ziemlich anstrengend. Weil es von mir fordert, dass ich kritisch zu mir selbst bin. Dass ich mit offenen Augen meine eigenen Baustellen angucke und neue Gerüste aufstelle.
„Gibt’s den auch mal ohne Gerüste?“ fragt die Frau, die auf den Turm des Mainzer Doms zeigt. Fast bin ich versucht zu sagen: Zum Glück nicht. Denn die Gerüste am Dom zeigen mir: Selbst so ein mächtiges Gebäude ist immer in Arbeit. Das macht es mir leichter, mich auch selbst immer wieder neu zu ‚bearbeiten’.
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