SWR2 Wort zum Tag

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Diese Liebeserklärung hat mich bewegt. André Gorz schreibt in seinem Buch »Brief an D.«: „Soeben bist du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist du schön, anmutig und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.“ (88-89)
Eine Liebeserklärung der ganz besonderen Art. Denn eigentlich sprach alles gegen diese Liebe. Er, André, ein österreichischer Jude, dem Nazi-Terror entronnen, sie, Dorine, eine gebildete Britin, ohne Heimat, in Europa unterwegs. Mitte des 20. Jahrhunderts sind das Welten. Sie treffen sich in den Wirren der Nachkriegszeit, im Herbst 1947, in der Schweiz. Und es ist, allen Umständen zum Trotz, Liebe auf den ersten Blick. Eine Liebe, die so lange dauert, wie sich das viele wünschen – und ich mir auch: sie dauert bis zum gemeinsamen Tod, 60 Jahre später im Herbst 2007.
Kurz vor dem Tod hat André Gorz, der österreichische Jude, ein kleines Buch über diese Liebe geschrieben. „Brief an D.“ heißt es lapidar, ein langer Brief an seine geliebte Frau Dorine. Ein Brief, der ans Herz geht. Weil er die Liebe dieser beiden Menschen zeigt, aber auch die Grenzen, an die die Liebe immer wieder stößt. Denn trotz aller Zuneigung bleiben zwei Menschen immer auch getrennte Wesen. Immer, das lese ich bei André Gorz, bleiben sich Menschen im letzten fremd, weil sie sich selbst ein Rätsel bleiben. Gorz schreibt sein Buch, um sich über diese Rätsel klar zu werden. Dorine ist schwerkrank. Und zwischen den Zeilen lese ich, dass Gorz die Zeit, die noch bleibt, genau dafür nutzen will: Sich Rechenschaft über die vergangenen 60 Jahre geben. Und er beschreibt nicht nur die tiefe Liebe zu seiner Frau, sondern auch seine Fehler. Seine eigenen Grenzen in dieser Beziehung: Dass er es etwa nicht geschafft hat, in seiner Biographie, wahrhaftig über seine Frau zu schreiben. Dass er ihr nie sagen konnte, wie er sehr er sie geliebt und gebraucht hat. André Gorz’ holt das in seinem »Brief an D.« nach. Und macht mir klar: Liebe gibt es nicht ohne Fehler und Missverständnisse. Aber vielleicht gehört es zur Liebe, die Fehler und Missverständnisse immer wieder anzugehen.

André Gorz: Brief an D., München 2009.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5860
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