SWR2 Wort zum Tag

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Ostern feiern – heißt das nicht auch: überlegen, was im eigenen Verhalten, im eigenen Herzen neu lebendig werden kann?
Angeregt zu diesen Gedanken hat mich ein kurzer Abschnitt in den autobiographischen „Erinnerungen“ von Carlo Schmid, dem langjährigen deutschen Spitzenpolitiker und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags. In jungen Jahren war er bereits ein erfolgreicher Jurist mit ehrenvollen politischen Aufgaben. Damals sind ihm im Berlin der 20-er Jahre täglich arme, wohnungslose, bettelnde Menschen begegnet. Und immer hatte er – zum leisen Spott seiner Kollegen – ein paar Münzen für sie in der Tasche. Eines Tages sieht er am Eingang eines Cafes einen älteren Mann mit einem Kind an der Hand stehen. Beide waren ärmlich, aber ordentlich gekleidet, sprachen ihn nicht an und hielten die Hand nicht auf. „Und doch war mir klar“, erzählt Carlo Schmid, „dass sie auf ein paar Groschen hofften“. Dummerweise hatte er keine Münzen in der Tasche, und der Griff zum Geldbeutel – in der Hose unter dem Mantel – war ihm zu umständlich. Er schaute auf die Seite und ging vorbei. Beschämt, weil er „aus purer Bequemlichkeit menschlich schmählich versagt“ habe, sei er sofort umgekehrt, schreibt er. Aber sie waren fort. Lange hat er erfolglos versucht, sie wieder zu finden. „Die beiden Gestalten stehen mir noch heute vor Augen, als seien sie in meine Seele eingebrannt. Ist nicht die Trägheit des Herzens die Grundsünde schlechthin?“
Ähnliche Szenen, dessen bin ich sicher, haben sich auch meinem Leben schon abgespielt. Die „Trägheit des Herzens“ – eine der so genannten Kardinalsünden: begleitet sie nicht mein Denken und Fühlen, mein Verhalten? Oft fällt nicht gleich auf, dass jemand bedürftig ist. Manchmal merke ich gar nicht, dass ein Mensch – oft in meiner allernächsten Umgebung – einfach hofft, dass ich ihn wahrnehme, dass ich achtsam mit ihm umgehe. Und oft geschieht das nicht einfach aus Bequemlichkeit, sondern es gibt höchst respektable Gründe dafür wie berufliche Überlastung, Stress, Müdigkeit – oder dass ich einfach den Kopf und vielleicht auch das Herz nicht frei habe. Zurück bleiben: ein enttäuschter Mensch und eine beschämende Erinnerung. Dass träge Herzen wacher werden – ist das nicht ein lebensnaher Osterwunsch?

Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg 1970, S. 60f.

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