SWR2 Wort zum Tag

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„Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein“. Viel zitiert wird dieser Satz aus der 68er Zeit, und zutreffend ist er auch. Er stammt von Karl Rahner, der heute vor 25 Jahren verstorben ist – einer der größten Theologen des 20 Jahrhunderts, aktueller denn je mit seinem Satz und seinem Denken. Christlicher Glaube ist demnach nicht weltabgehoben, er zeigt sich im Alltag. Nicht Lehrsätze stehen im Mittelpunkt, moralische Vorschriften erst recht nicht, es geht um Erfahrung, es geht um das alltägliche Leben und seine Gestaltung im Sinne Jesu. Mystik ist für Karl Rahner nichts Abgehobenes oder gar Ausgeflipptes, es ist die Achtsamkeit für das Mysterium des Daseins, für das Geheimnis des Lebens. Überall spürt dieser katholische Priester und Jesuit jene Erfahrungen auf, in denen wir Menschen unseren Horizont überschreiten. Es geht um Situationen, in denen wir vom Größeren überwältigt werden und, wortwörtlich, ergriffen sind. Rahner sagt es z.B. so: „Wo die bruchstückhafte Erfahrung von Liebe, Schönheit, Freude als Verheißung von Liebe, Schönheit und Freude schlechthin erlebt und angenommen wird“, da berühren wir mitten im Alltäglichen das Wunder der göttlichen Gegenwart. Gewiss, Liebe kann scheitern, Schönheit ist selten, Freude hält nicht lange an, und manch einer wird dann zynisch oder resignativ. Rahner spricht vom „brennenden Schmerz der Endlichkeit“, denn in allem ist etwas zu wenig. Aber in den Fragmenten von Glück und Gelinge nist doch schon ein kräftiger Vorgeschmack zu spüren von dem, was die Fülle ist. Nochmal Rahner: „Wo der bittere, enttäuschende und zerrinnende Alltag heiter gelassen durchgestanden wird bis zum angenommenen Ende" - da sind wir dem Geheimnis des Lebens nahe, Gott selbst. Rahner redet die Verhältnisse nicht schön, er widersteht der Versuchung zu Resignation und Schwermut, und genau zwischen diesen Extremen ist seine Theologie ein einziges Loblied auf das menschliche Dasein in der Welt, wie sie ist. Sich davon ergreifen und überwältigen zu lassen, Gott also in allen Dingen zu suchen und zu finden, nein, sich von ihm finden zu lassen – das ist die Musik seiner Theologie. Das nennt er Mystik des Alltags, Mysterium des Glaubens.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5702
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