SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Allmählich - und nach Möglichkeit langsam - öffnen wir die Augen am Morgen nach dem Erwachen. Als müssten wir etwas in uns schützen, dass noch nicht da sein will, noch nicht dem begegnen will, was der neue Tag uns bringt.
Aber auch am hellen Tag möchte ich immer wieder einmal die Augenlider schließen und einfach für eine Weile dem entnommen sein, was vor Augen ist.
Ist das Flucht vor der Realität? Schaue ich nur weg? Oder eröffnet sich mir so ein anderer Blick, eine andere Perspektive?

Unlängst habe ich eine für mich neue Entdeckung an den Figuren von Ernst Barlach gemacht. Sehr viele seiner Figuren haben geschlossene Augen. Nicht weil sie schlafen! Sie spielen Flöte oder Singen - in gespannter, bewegter Körperhaltung – mit geschlossenen Augen.
Auch der „Schwebende“ im Güstrower Dom gehört dazu - ein Denkmal Barlachs für die Gefallenen des 1. Weltkrieges. Keine weit aufgerissenen Augen – kein entsetzter Blick, dem man die Katastrophe des Krieges abspüren könnte. Sondern ruhige, gänzlich unaufgeregte, verschlossene Augen.
Was sehen diese geschlossenen Augen? Es kommt mir so vor, als würden diese geschlossenen Augen hinüber blicken – darüber hinausschauen – in eine Welt und in eine Zeit, wo Gewalt und Kriege ein Ende haben. Sie blicken nicht nach innen, nicht zurück und auch nicht in eine bedrohliche Zukunft – sondern visionär in eine erlöste Welt. Dieser Blick hat etwas von dem, was Dietrich Bonhoeffer einmal so beschreibt: „Ich muss die Augen meiner Sinne schließen, wenn ich sehen will, was Gott mir zeigt.“ (Brevier, 129; Auslegung zu Psalm 119,18.) Das Augen schließen hat mitunter also auch mit einer Zuwendung zu Gott zu tun. Bonhoeffer nennt die so geschlossenen und auf Gott orientierten Augen einmal auch „erleuchtete Augen des Herzens“. (Brevier, S.130)

Übrigens: Ich wundere mich und staune, wie viele Jugendliche, denen nachgesagt wird, sie würden in ihrer Freizeit hauptsächlich Computerspiele vor Augen haben - zur Meditation kommen – sie sitzen mit geschlossenen Augen eine viertel Stunde schweigend im Kreis – und sagen mir hinterher, genau das würde ihnen Kraft geben. Sie brauchen erleuchtete Augen des Herzens. Und ich auch. Ich brauche so ein Sehen mit geschlossen, erleuchteten Augen – immer wieder - nicht zuletzt um den Bildern, die mich bedrücken und erschrecken – etwas innerlich entgegensetzen zu können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=5499
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