SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Nichts ist so erstaunlich wie der Sonnenaufgang jeden Morgen. Gar nicht auszudenken, wenn die Sonne im nächtlichen Dunkel verschwinden würde und nicht mehr hoch käme. „Ex oriente lux“ – „Im Osten geht die Sonne auf“ – und nur deshalb können wir uns orientieren, wortwörtlich. Wir brauchen den Horizont, wir brauchen die Unterscheidung von Dunkel und Licht, von Tag und Nacht. Heute Morgen unterwegs – wie selbstverständlich und in Routine, und eigentlich doch unglaublich. „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte,/ schick uns diese Morgenzeit, deine Strahlen zu Gesichte, / und vertreib durch deine Macht / unsere Nacht.“ So heißt es im alten Kirchenlied aus der Barockzeit.
Genau das hatte Simone Weil im Sinn – die große spirituelle Grenzgängerin, vor 100 Jahren geboren, aktueller denn je. In ihren Tagebüchern steht die Notiz: „Die Art, wie die Dinge im Morgengrauen das Licht empfangen. Zeit – geduldige Erwartung des Lichts, Fügsamkeit.“ Was Simone Weil fasziniert, ist die Selbstlosigkeit der Dinge. Sie lassen den Aufgang des Sonnenlichts nicht einfach über sich ergehen, sie scheinen ihn zu erwarten, geduldig, drängend, selbstlos und empfänglich. So soll der Mensch sein vor Gott, meint Simone Weil; so sollen wir sein jetzt, heute Morgen und diesen Tag. Nicht gleich voll mit Plänen und Wünschen, mit Terminen und Projekten; nein: ganz rein, ganz leer, ganz in Erwartung, offen und empfänglich – wenigstens einen Moment lang.
Einmal war ich nachts im Gebirge, 3000 Meter hoch, gespannt schauten wir gen Osten, wo die Sonne aufgeht. Die Strahlen kündigten sich an, das Nachtdunkel wurde heller, und dann war sie da. Und kaum später stand der Berninagletscher gegenüber im Rosa und Rot der aufgehenden Sonne. Hier habe ich erlebt, wie die Dinge im Morgengrauen das Licht empfangen. „Geduldige Erwartung des Lichts,“ – sagt Simone Weil, und dann fügt sie hinzu: „Fügsamkeit“. Nicht nur flexibel reagieren, nicht nur seinen Job machen und funktionieren, nein: dem aufgehenden Licht Raum geben. Der Morgenglanz der Ewigkeit hier und jetzt im Alltäglichen. In diesem Sinn einen guten Morgen.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=5444
weiterlesen...