SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Über den Dialog der Kulturen und Religionen lässt sich gut reden – nur wenige leben diesen Dialog aber. Simone Weil ist so eine gewesen: aus jüdischen Elternhaus stammend, intellektuell und sozial leidenschaftlich engagiert, und immer aufs Konkrete bedacht. Vor 100 Jahren wurde sie in Straßburg geboren, nur 34 Jahre ist sie alt geworden, aber das Gebirge ihrer Texte enthält Bergkristalle und Diamanten von authentischer Spiritualität wie wenige sonst. Simone Weil interessierte sich immer entschiedener für das Christentum, aber der Kirche trat sie nie bei. Sie fühlte sich von Christus beauftragt, an der Schwelle zu leben. Würde sie der Kirche beitreten, so ihr Argument, dann würde sie die Solidarität mit den Armen und Unterdrückten verraten. Auch der Reichtum anderer Religionen und Kulturen ginge ihr dann verloren. Beides aber war ihr unendlich wichtig, dieser interreligiösen Grenzgängerin. Nichts hasste sie mehr als bloßes Herumreden oder Herumdenken. Konkret muss das Leben sein, konkret auch die Spiritualität, hier und jetzt, und entschieden immer auf der Seite der Armen. Kaum 25 jährig, ließ sich die junge Lehrerin vom Dienst beurlauben; bewusst ging sie fast ein Jahr lang in die Niederungen der Gesellschaft. Im Akkord arbeitet sie bei Renault, als Fräserin, jeden Tag 10 Stunden, die ganze Woche hindurch. Intellektuelle, die nur Mundwerker sind, sind ihr verdächtig. Es gilt Hand anzulegen und sich einzumischen im Hier und Jetzt. Authentische Spiritualität darf nicht weltflüchtig sein, jeder Augenblick ist entscheidend. In ihren Tagebüchern schreibt sie: „Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt.“ (IV 131) Diese Minuten jetzt, dieser Tag – sie sind also nicht nur chronometrisch messbar, auf der Uhr abzulesen, im Tempo vielleicht oder unter Terminstress. Nein: Sie haben eine einmalige Bedeutung. In jedem Augenblick ist es Gott selbst, der sozusagen bei uns anklopft und Mit-liebende sucht, Mit-arbeitende. Die Zeit einfach durchzuziehen oder gar totzuschlagen, wäre für Simone Weil fatal . Jeder Augenblick ist Gold wert, einmalig.
So lebt diese Frau, im Spagat zwischen schwerer Handarbeit vor Ort und höchst kreativer Denkarbeit, und immer im Blick auf die Verhältnisse. Gott ist für sie nicht eine zeitenthobene Wirklichkeit nur, er wird konkret in jedem Augenblick. Er braucht uns Menschen nicht, aber er will uns brauchen. Er will nicht Gott sein ohne uns. Und deshalb ist jeder Augenblick wichtig, deshalb ist dieser Tag eine einmalige Chance. Noch mal Simone Weil: „Gott wartet mit Geduld, dass ich endlich einwillige, ihn zu lieben. Gott wartet wie ein Bettler, der aufrecht, reglos und schweigend vor jemandem da steht, der ihm vielleicht ein Stück Brot geben wird. Die Zeit ist dieses Warten.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=5443
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