Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Frau auf dem Plakat sieht nicht gepflegt aus. Ihr T-Shirt ist ausgeleiert. Die Mütze sitzt schief auf dem Kopf. Die Frau lebt offensichtlich als Wohnungslose auf der Straße. Sie schaut mich an und legt ihre beiden Zeigefinger an die Mundwinkel, verzieht sie zu einem Lächeln. Darunter der Spruch „Ein Lächeln erfreut jeden. Auch mich.“ Mit diesem Plakat wirbt die Caritas in diesem Jahr für ihren Slogan „Soziale Manieren für eine bessere Gesellschaft.“
Die Frau macht deutlich, was damit gemeint ist: Jedem Menschen tut es gut offen angesehen, gegrüßt und menschlich behandelt zu werden. Auch wenn er in Armut oder auf der Straße lebt. Jeder Mensch hat das Recht auf Respekt und Achtung – gleichgültig ob er eine Wohnung hat oder nicht.
Solche Worte können sehr schnell konkret werden: Ich war auf dem Weg zu einem kirchlichen Empfang, da trat ein Wohnungsloser auf mich zu und bat: „Haben Sie mal einen Euro für einen alten Mann?“ Zusätzlich wollte er noch etwas wissen: „Wo gehen denn all die Leute da hin?“ „Zu einem Empfang.“ „Ach ja, kann da denn jeder hin?“ „Nein, nur die Eingeladenen.“ „Ach so.“-
Fünf Minuten später war ich im gewohnten Kreis der kirchlichen Vertreter und Funktionäre. Die Atmosphäre war offen, freundlich und anregend. Aber ich konnte den Reden dennoch nicht folgen. Denn mir ging der kurze Wortwechsel nicht aus dem Kopf: Kann denn da jeder hin? Nein, nur die Eingeladenen. Und der Mann von der Straße war eben nicht eingeladen.
Genau dieses Verhalten kritisiert Jesus: So lange ihr nur denen Gutes tut, von denen ihr im Gegenzug auch Gutes erwartet, so Jesus, handelt ihr nicht anders als alle. Auch Egoisten und Sünder handeln so. Von euch wird erwartet, dass ihr Gutes tut, wo ihr nichts zu erwarten habt. Denn ihr habt auch alles von Gott umsonst bekommen, und umsonst sollt ihr geben.
Das ist freilich mehr als soziale Manieren und Respekt. Aber Respekt ist der erste Schritt, ist der Türöffner zu einem solchen Verhalten. Jemanden respektvoll anzusehen ist der erste Schritt, in ihm allmählich trotz aller Äußerlichkeiten den Bruder zu erkennen. Den Bruder, dem man die Hand gibt. Den man vielleicht sogar einmal einlädt. Auch zu einem Empfang.

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