SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Manche Jahrestage sind fröhlich und ein Grund zum Feiern. Andere stimmen eher nach-denklich.

Vielleicht haben Sie den oscarprämierten Film „Das Leben der Anderen“ gesehen. Er erzählt die Geschichte, wie ein Paar systematisch überwacht und bespitzelt wird. Der Ge-heimdienstmann hört alles, auch wenn sie im Bett liegen. Ein anderer verfolgt sie sofort, wenn sie aus dem Haus gehen. Briefe werden geöffnet, Telefongespräche abgehört. Je länger der Film läuft, desto mehr spürt man eine bedrohlich-beklemmende Atmosphäre. Niemand wird verschleppt oder gefoltert, aber Menschen werden mürbe gemacht. Der eine verzweifelt immer mehr. Die andere tut unter Druck Dinge, für die sie sich später schrecklich schämt. Eine Beziehung wird zerstört. Ein Mensch stirbt.

Heute vor 59 Jahren, am 8. Februar 1950, wurde in der DDR das Ministerium für Staats-sicherheit, kurz: die Stasi, gegründet. Dieser Geheimdienst sorgte vor allem im eigenen Land für Angst und Schrecken. Dort arbeiteten über 100.000 verdeckte Stasi-Mitarbeiter. Der eine schnüffelte im Kollegenkreis, der andere verriet Freunde, ein dritter machte sich in der Schule Notizen. Sie schufen ein Klima des Misstrauens und der Angst. Sie beein-flussten Biographien und brachten Menschen ins Gefängnis. Als Westberliner Kind berühr-ten mich die Schicksale der Verwandtschaft von der anderen Seite der Mauer besonders tief.
Der Film gibt keine Antwort auf die Frage, wie die Stasi-Männer zu ihrer Tätigkeit ge-kommen sind. Manche waren sicher mit gutem Gewissen von ihrer Arbeit überzeugt. Sie wollten in der DDR eine bessere Welt verwirklichen. Andere haben die Macht des Geheimdienstes geschickt genutzt, um eigene Interessen durchzusetzen. Wieder andere wurden erpresst und mit unfairen Mitteln dazu gebracht, für die Stasi zu spitzeln. Die damals Schuld auf sich geladen haben, das waren Menschen wie Sie und ich. Aus Überzeugung oder aus Schwäche, weil sie da hineingeraten sind oder weil sie sich einen Vorteil sichern wollten. So kann es gehen. Mir scheint: Niemand kann sagen, das könnte mir nie passieren.

In Schuld verstrickt zu sein ist das eine, noch wichtiger aber ist: Wie geht man damit um? Viele der ehemaligen Agenten verschwanden nach dem Ende der DDR kleinlaut von der Bühne. Sie wollten nicht darüber nachdenken, ob sie vielleicht etwas falsch gemacht hatten. Sie schoben die Verantwortung ab und sagten: „Wir hatten eben keine andere Wahl.“ Manche hielten ihre Schuld oder die neue Zeit nicht aus und nahmen sich das Leben. Nur sehr wenige traten nach 1989 ihren Opfern oder der Öffentlichkeit gegenüber und baten um Entschuldigung.

Teil 2

Die Stasi-Machenschaften haben Gott sei Dank ihr Ende gefunden. Aber der Frage von Schuld und Verantwortung kann keiner entrinnen. Ich denke, das ist eine Frage, die jedem von uns gut vertraut ist. Wir alle kennen Schuld. Manchmal sind wir Opfer geworden, manchmal waren wir schuldig. Der eine handelt unüberlegt. Die andere voll Berechnung und mit Plan. Wir alle sind in schuldhafte Beziehungen verstrickt. Wir kennen Betrug, manchmal sogar Gewalt. Wir wissen, wie sie zu benutzen sind: Worte, die verletzen. Taten, die wehtun. Gegenüber Fremden und Bekannten, selbst gegenüber dem eigenen Ehepartner oder den Kindern. Es ist meist sehr schwer, sich selbst einzugestehen: Ich bin schuldig geworden. Noch schwerer ist es, darüber zu sprechen. So oft hört man: „Ich war’s doch gar nicht.“ Oder: „Das ist halt so passiert.“ Aber was man verschweigt, ist ja trotzdem da und liegt einem auf der Seele. Wenn man darüber reden könnte, würde es vielleicht leichter.

Eine Möglichkeit, mit dem Ehrlichsein zu beginnen, ist das Gebet. Vor Gott kann ich alles Falsche und Misslungene aussprechen. Schon dadurch wird manches leichter. Ich kann Gott bitten und hoffen, dass er in Segen verwandelt, was mir die Kehle zuschnürt. Und dann spüre ich, dass ich mich mit seiner Hilfe verändern kann und nicht der Alte bleiben muss. Ich glaube: Wenn wir den Mut haben, Fehler einzugestehen, können wir gut zu-sammen leben. Wenn wir ein großes Herz haben und bereit sind, anderen zu vergeben! Wir gemeinsam können auf Gottes große Barmherzigkeit vertrauen und dürfen selber barmherzig sein.

In dem Film „Das Leben der Anderen“ erfahren wir, dass Versöhnung möglich ist, auch über große Schuld hinweg: Der Stasi-Mann kann in dem Film irgendwann nicht mehr weiter. Statt das Paar pflichtgemäß zu überwachen, fälscht er die Abhörprotokolle und schützt sie. Er hat nicht den Mut, direkt auf seine Opfer zuzugehen und sie um Verge-bung zu bitten. Aber mit seinem Tun kehrt er um und zeigt Reue. Das hilft dem bespitzelten Schriftsteller, seine Verzweiflung zu überwinden. Vorher war er wie gelähmt und konnte nicht mehr schreiben. Doch nun ist der Damm gebrochen. Er weiß nun: Da war in aller Schuld einer, der sich verändert hat. Der Schriftsteller widmet sein neues Buch dem unbekannten Stasi-Mann. Damit ist nicht auf einmal alles gut. Beide Männer tragen wei-ter an dem Unrecht und der Schuld der Vergangenheit. Aber es ist ein Zeichen der Ver-söhnung, und sie können leben.

Ich meine, solche Zeichen können auch wir setzen. Die Tochter anrufen: „Du, was ich dir immer schon mal sagen wollte...“ Dem ehemaligen Kollegen einen Brief schreiben: „Ich war unfair dir gegenüber...“ Den Ehepartner um Verzeihung bitten. Das kann, so schwer es ist, wirklich eine Erleichterung sein. Und denen, die es hören, denen tut es gut. Nicht immer wird es zu Vergebung und Versöhnung kommen. Aber die Schuld – sie wiegt leich-ter, wenn sie einmal ausgesprochen wurde. Und dass Menschen einander verzeihen – das gibt es wahrlich nicht nur im Film! https://www.kirche-im-swr.de/?m=5384
weiterlesen...