SWR2 Wort zum Tag

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Kann man nach Auschwitz noch von Gott reden? Kann man beten, Gott gar loben? So wurde immer wieder gefragt, seit das ganze Ausmaß des Grauens nicht mehr verschwiegen oder verdrängt werden konnte. Es ist die Frage, wo Gott ist, wenn Menschen entsetzlich leiden müssen, wenn nicht mehr vorstellbares Unrecht geschieht. - Am Tag des Gedenkens an die Befreiung von Auschwitz vor 64 Jahren und an die Opfer des Nationalsozialismus ist es angemessen, sich dieser Frage neu zu stellen. Leichthin ist die Frage wahrhaftig nicht zu beantworten. Denn dass Gott in so grauenhaften Ereignissen verborgen bleibt und dass in ihnen absolut kein Sinn zu finden ist, gibt dem Zweifel an Gott und am Sinn des Gebets reichlich Nahrung.

Aber nun wurde in Auschwitz gebetet. Christen haben gebetet. Juden sind mit ihrem Bekenntnis zu dem einen Gott auf den Lippen in die Gaskammern gegangen. In den Klagen der Psalmen haben sich Menschen wiedergefunden und sie an den verborgenen Gott gerichtet. Ein unbekannter Jude hat in einem Konzentrationslager gar für seine Peiniger gebetet: Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache. … Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten, und der Blutzeugen sind gar zu viele. … Darum, o Gott, wiege nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden, dass du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst. …Kann man ein solches Beten mitten im Grauen auch nur annähernd verstehen?

Der unbekannte Jude hat in seinem Gebet das Grauen nicht heruntergespielt. Er hat die nicht fassbaren Gräueltaten und die Opfer vor Augen. Er erfährt die eigene Ohnmacht und die Verborgenheit Gottes. Aber er hat trotzdem gebetet. Und hat dabei dem Entsetzlichen widersprochen. In seinen Bitten hat er bei Gott Frieden statt Rache gesucht, von ihm das Ende der Schrecken erwartet, einen Neuanfang, der sogar die Täter einschließt, was man kaum fassen und ganz gewiss von Opfern auch nicht verlangen kann. Er hat gebetet und sich mit der Verborgenheit Gottes nicht abgefunden. Er hat den Gott des Friedens gegen den verborgenen Gott, der das Entsetzliche zulässt, angerufen. – Das Gebet hat, wenn es ehrlich ist, wohl immer etwas von diesem Dennoch, mit dem man sich gegen das Unrecht in der Welt, gegen die sinnlosen Leiden – und gegen die Hoffnungslosigkeit stemmt. Und es lebt von der in der Erfahrung nicht begründbaren Überzeugung, dass Gott nicht verborgen bleibt, dass er ein Gott des Friedens und der Liebe ist, wenn noch so viel dagegen zu sprechen scheint. So ist Beten möglich, auch nach Auschwitz.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5327
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