SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Der Vater ist erkrankt. Eine Demenz lässt seine Erinnerungen nach und nach zerbröseln. Sein Sohn müht sich fast verzweifelt darum, die Erinnerungen des Vaters zu bewahren, sie für ihn weiter zu tragen. Sie sollen nicht verloren gehen. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat diese Geschichte in einem seiner Romane erzählt. Von der Kostbarkeit unserer Erinnerungen handelt sie. Sie kam mir in den Sinn, als meine Mutter nach einem Unfall nicht mehr dieselbe war. Ihre Erinnerungen ergaben plötzlich keinen Sinn mehr. Alles geriet ihr wild durcheinander. Ihr vormals geordnetes Leben verlor sich plötzlich in sinnloser Konfusion. Was sind wir ohne unsere Erinnerungen? Sie sind es schließlich, die unser Leben erst in einen größeren Zusammenhang stellen, ihm eine Geschichte geben. Die einer Familie, eines Ortes, eines ganzen Volkes. Erinnerung verleiht unserem Leben erst einen tieferen Sinn.
Darum ist auch Religion nicht denkbar ohne Erinnerung. Darum versammeln sich Christen immer wieder, um sich beim Abendmahl dieselbe alte Geschichte zu erzählen: Was damals geschah, an jenem letzten Abend des Jesus von Nazareth. Darum erzählen sich Juden an jedem Paschafest wieder die Geschichte der Rettung ihres Volkes. Darum beten Muslime mit dem Blick nach Mekka, wo für sie alles seinen Anfang nahm. Erinnerung erst schafft Ordnung, gibt Sicherheit und Identität.
Meine Mutter übrigens hat ihre Erinnerungen langsam wieder sortieren und so ihre Ordnung wieder finden können. Nicht allen Kranken gelingt das. Dann braucht es Menschen, die die Erinnerungen weiter tragen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5276
weiterlesen...