SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Gott kann man nicht sehen. Oder vielleicht doch? Vielleicht kann man ihn weniger „sehen“, aber dennoch in etwas erkennen, das man „sieht“.
Eine Legende erzählt von einem römischen Kaiser, der am Ende seiner Tage von Schwermut geplagt war. Alles
hatte er in seinem Leben gehabt: Reichtum, Macht, Triumph, Ruhm und Ehre. Nur ein Wunsch blieb unerfüllt: Er wollte Gott sehen. So schickte er seine Berater und Priester los, dass sie ihm Gott zeigten. Die kehrten mit einer Vielzahl von Bildnissen zurück, die der Kaiser – aufgeklärt wie er war – jedoch alle als menschliches Machwerk verwarf.
Da begehrte ein Rabbi zum Kaiser vorgelassen zu werden. „Ihr wollt Gott sehen? Also gut, schaut her“, rief er, nahm eine Silberplatte von dessen festlicher Tafel und hielt sie dem Kaiser so entgegen, dass sich in ihr das Sonnenlicht spiegelte und ein gleißender Schein in die Augen des Imperators fiel. Geblendet wich der Herrscher zurück: „Willst du, dass ich erblinde?“ – „Mein Kaiser“, antwortete der Rabbi, „das ist doch nur ein kleiner Stern
in Gottes Schöpfung, der schwache Abglanz der strahlenden Größe Gottes. Und ihr wollt wirklich Gott selbst sehen?“
Dem Kaiser gefiel die schlaue Antwort des Rabbi und er sagte zu ihm: „Ich sehe, dass du sehr klug bist. Sage
mir: Was war, bevor Gott war?“ Der Rabbi forderte den Kaiser auf zu zählen. „Eins, zwei, drei“, begann der Kaiser. Doch der Rabbi unterbrach ihn sofort wieder: „Nein! Fangt mit dem an, was vor ‘eins’ kommt.“ Der Herrscher starrte den Rabbi fragend an: „Wie denn? Vor ‘eins’ gibt es doch nichts.“ – „Ich sehe, dass auch ihr sehr weise seid“, erwiderte der Rabbi. „Vor Gott gibt es auch nichts.“
„Antworte mir noch auf eine dritte Frage“, bat der Kaiser den Gelehrten. „Was macht Gott?“ Der Rabbi forderte
den Kaiser auf, mit ihm die Kleider zu tauschen. Der Herrscher legte seine kostbaren Gewänder ab und zog sich
das schlichte Gewand des Rabbi an. Der Rabbi aber kleidete sich in den Ornat des Kaisers und bestieg dessen Thron. „Schaut!“, sagte er. „Das macht Gott: Die einfachen Leute verwandelt er in Herren und die Mächtigen in Bettler.“
Dann tauschten beide wieder ihre Kleider. Der Kaiser aber war von den Worten des Rabbi tief beeindruckt und sagte: „Jetzt sehe ich Gott.“
Man muss wohl nicht Kaiser oder Rabbi sein, um auf diese Weise Gott zu sehen. Das Licht von Weihnachten
genügt – oder manches Wort Jesu, das uns lehrt, ihn, den Christus, im Nächsten, in den Ohnmächtigen, in den Geringsten seiner Brüder zu finden. https://www.kirche-im-swr.de/?m=5234
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