SWR3 Gedanken

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Meine Nichte Clara kommt niedergeschmettert aus der Schule heim. Die Rollen fürs Krippenspiel wurden heute verteilt. Und obwohl sie mit ihren Engelslocken und ihrem unschuldigen Blick die geborene Maria wäre, hat ihr die Lehrerin unbarmherzig die Rolle einer Hecke zugeteilt. Die Welt ist einfach ungerecht.
Das mag sich auch der echte Josef gedacht haben. Genau wie die Hecke scheint er in den meisten Krippenszenen auch nicht mehr als gute Staffage zu sein. Stockträger oder Lampenhalter. Die Hauptdarsteller sind andere: seine Frau Maria und natürlich das Jesuskind.
Es kommt erschwerend hinzu, dass der Schreiner Josef vermutlich nicht einmal der leibliche Vater des Kindes ist. Das Kind soll vom Heiligen Geist sein - klingt nach einer schlechten Ausrede. Ich finde, Grund genug für Josef, die Lampe oder den Stock ins Eck zu stellen und den Stall in Bethlehem zu verlassen.
Macht er aber nicht. Josef steht zu Maria, er schützt sie und pocht nicht auf sein Recht. Obwohl das ganz und gar nicht dem normalen männlichen Verhalten des alten Orients entspricht. Aber Josef ist eben anders. Und zum Glück ist er anders. Denn ohne sein Verständnis wäre Maria wahrscheinlich als Ehebrecherin gesteinigt worden. Außerdem hätte Jesus nie die Geheimnisse einer Werkbank und die harte menschliche Arbeit kennen gelernt.
Josef war genau der richtige Mann am richtigen Ort. Und etwas in dieser Art habe ich auch der niedergeschlagenen Clara ins Ohr geflüstert: „Clara, beim Krippenspiel ist die Hecke genauso wichtig wie Ochs, Esel, Maria und Josef. Die Hecke hält den kalten Wind vom Stall fern und ihre Zweige sind leckeres Futter für all die Schafe.“
Vielleicht hat Clara eines aus dem Krippenspiel mitgenommen: Das Leben besteht aus mehr als nur Hauptrollen. Die Kunst besteht darin, auch in den Nebenrollen gut zu sein.
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