SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Warten kann ganz unterschiedlich sein. Im Wartezimmer eines Arztes dehnt sich die Zeit endlos. Auf dem Bahnsteig, wenn ich durch den Lautsprecher erfahre, dass der erwartete Zug wegen eines technischen Defekts eine Stunde Verspätung hat, wird Warten zur Qual.
Aber, es gibt Situationen, wo ich das Warten anders erlebe: als vibrierende Spannung, als Verzauberung der Zeit. So, wenn sich ein geliebter Mensch angekündigt hat. Wir haben uns über Wochen und Monate, vielleicht Jahre, nicht gesehen. Und jetzt steht das Wiedersehen kurz bevor. Was für ein aufregendes Gefühl!
Und, wie war das noch vor dem ersten Rendezvous? Als die Begegnung, die lang erwünschte, endlich zustande kommen sollte? Was ging einem da nicht alles durch den Kopf? Was ziehe ich am besten an? Welche Worte soll ich wählen?
Es ist so: Erwartung verwandelt. Sie verändert uns schon lange, bevor das angekündigte Ereignis eintritt oder die erwartete Person vor uns steht.
Der christliche Glaube lebt aus dem Gefühl der Erwartung. „Wir warten dein, o Gottes Sohn“, heißt es in einem Kirchenlied, „und lieben dein Erscheinen. Wer an dich glaubt erhebt sein Haupt, und siehet dir entgegen; du kommst uns ja zum Segen.“
Beim Lesen dieser Worte spüre ich, wie ich mit meiner Erwartung an das Leben und an meine persönliche Zukunft aufgehoben bin in dieser größeren Erwartung. Menschen lange vor mir haben sie besungen. Und ich finde bestätigt: Warten kann stark machen.
An einer biblischen Geschichte wird mir das besonders klar: der Geschichte vom alten Simeon im Tempel. Von ihm heißt es, er wollte nicht sterben, solange er nicht den „Trost Israels“ gesehen hätte. So wartet er, Jahr für Jahr, voller Geduld. Eines Tages passiert es dann. Da bringen die Eltern das neugeborene Jesuskind zu ihm in den Tempel.
Der Maler Rembrandt hat diesen Augenblick erfüllter Erwartung wunderbar in Farbe umgesetzt. Die Augen des greisen Simeon sind schon trübe, sein Bart ist schneeweiß. Aber mit dem Jesuskind auf dem Arm leuchtet er gleichsam von innen.
Sein Gesicht ist die Widerspiegelung des Glanzes, der abstrahlt vom Glanz des Kindes auf seinen Armen. So warten lernen auf eine Erfüllung über mein Leben hinaus, das möchte ich. Dem Alltag zugewandt, aber in ein Licht getaucht, das die Tage von innen her zum Leuchten bringt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5056
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