SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ein Mann steigt in die S-Bahn ein, einen Stoffbeutel in jeder Hand. Er setzt sich, will seine Beutel auf den Sitz gegenüber abstellen. Die Bahn fährt los und da knallt eine der beiden Taschen gegen die Metallfassung des Sitzes, Glas klirrt und dann ergießt sich ein Liter Milch in die S-Bahn. Alles guckt, sieht der Milch zu, wie sie langsam durch den Wagen fließt. Der Mann hält hilflos die tropfnasse Stofftasche in der Hand. Niemand rührt sich.
Auch ich nicht. Dabei sitze ich neben dem Mann, denke: Eigentlich müsste ich was tun, hab aber so recht keine Idee was. Fühl mich irgendwie gelähmt, so, als würde das Denken unheimlich viel Zeit brauche. Anderen scheint es ähnlich zu gehen. Dann endlich, nach einer quälend langen Zeit, haben eine Frau gegenüber und ich fast die selbe Idee. Ich raffe mich auf, ziehe meine Taschentücher aus dem Rucksack, sie bietet dem Mann ihre Zeitung an. „Zum Aufwischen“, sagt sie. Und dann versuchen wir zu dritt, mit Taschentüchern und Zeitungen das Malheur zu beseitigen. Bis meine Station kam.
Als ich ausstieg, sah ich die beiden noch beim Wischen. Die Milch war fast vollständig weg. Aufgesogen von Taschentüchern und Zeitungspapier. Trotzdem konnte ich mich nicht so recht freuen. Im Gegenteil. Ich habe mich geschämt. Geschämt, weil ich nicht selbstverständlich angepackt habe.
Ich habe mal gelernt, was für spontane Hilfe wichtig ist: Die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen. Im Grunde keine sehr schwere Übung. Wer ein Liter Milch verschüttet, dem ist das wahrscheinlich ziemlich peinlich. Die Milch läuft durch den ganzen Wagen, alles ist versaut, und alle gucken hin. Peinlich. Noch peinlicher wird’s, wenn alle wegsehen, so tun, als ginge sie die Milch gar nichts an. Mir zumindest wäre das peinlich. Und ich würde versuchen, die Bescherung so schnell wie möglich wegzumachen. Also: Über Hilfe würde ich mich freuen, wäre dankbar, wenn sich jemand erbarmt und anpackt. Soweit die Theorie. Aber in der konkreten Situation, da konnte ich mich nicht aufraffen.
Der Advent ist seit alters her eine Fasten- und Bußzeit, eine Zeit, in der sich jeder Zeit nehmen sollte, über sich nachzudenken. Heute geht das im Trubel von Vorweihnachtsfeiern, Weihnachtsmärkten und Geschenkekauf unter. Mich hat die zerbrochene Milchfalsche wieder angeregt, die Adventszeit ernst zu nehmen. Zu sehen, wo ich anders handeln, anders leben kann. Und zu überlegen, wie ich das konkret umsetzen kann. Vielleicht schon bei der nächsten ausgelaufenen Milch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=5038
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