Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Gestern habe ich einen Schutzengel getroffen. Das war so.
„Wo möchten Sie denn hin?“ fragte jemand hinter mir. Gerade war ich in Stuttgart in die Straßenbahn eingestiegen. Ich stand vor dem Streckennetzplan, suchte die Linie 6. Das hatte der Mann auf dem Sitz hinter mir bemerkt: „Wo möchten Sie denn hin?“ „Nach Möhringen. Ich wollte gerade nachschauen, wie weit es ist, wie lange es wohl dauert.“ „Ungefähr zehn Minuten, dann sind Sie dort.“ sagte der Mann mit freundlicher Stimme. „Danke!“ Erleichtert ließ ich mich ein paar Meter weiter auf einen freien Sitz nieder. Über dem Fenster entdeckte ich den Streckenplan der Linie 6. Kleine Lichtpunkten zeigten an, an welcher Haltestelle wir gerade waren. Noch während mein Blick über den Linienverlauf glitt, hörte ich die freundliche Stimme des Mannes von vorhin wieder. „Nur damit Sie nicht falsch aussteigen: In Möhringen gibt es zwei Haltestellen. Wo wollen Sie denn hin?“ „Ich muss in die Linie 3 umsteigen.“ „Dann müssen Sie in Möhringen-Bahnhof aussteigen; sehen Sie, hier!“ Er zeigte es mir auf dem Linienplan – und ging wieder auf seinen Platz zurück. Ich freute mich: So viel Aufmerksamkeit ist ungewöhnlich. Zwei Haltestellen weiter stand der Mann auf und rief mir im Aussteigen noch zu: „Die U 3 fährt in Möhringen alle 10 Minuten ab – Sie müssen nur über die beiden Gleise gehen, dann sind Sie schon auf dem anderen Bahnsteig!“ Ich habe ihm nachgeschaut, so lange er noch zu sehen war – mit einem dankbaren Blick und einem Stoßgebet im Herzen: Gott, erhalte ihm diese Gabe, dass er so achtsam ist für seine Mitmenschen.
Eine Begebenheit mitten im Alltag. Und doch habe ich sie als etwas Besonderes erlebt. An diesen Mann habe ich noch öfter denken müssen. Irgendwie fühlte ich mich ihm innerlich nahe. Er war ja in der Straßenbahn so etwas wie mein Schutzengel: Er hat sich in meine Situation hineinversetzt. Er hat auf mich aufgepasst, dass ich den richtigen Weg wähle und gut an mein Ziel komme; er hat mich mit liebevoller Aufmerksamkeit begleitet. Und all das auf eine freundliche, unaufdringliche Art, als ob es für ihn normal ist. Wirklich wie ein guter Schutzengel.
In Möhringen bin ich dann innerlich beflügelt umgestiegen. Schutzengel, habe ich gedacht, brauchen keine Flügel, aber sie machen welche.
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