Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Jeden Samstag steht sie am Supermarkt neben dem Stellplatz für die Einkaufswagen. Woh-nungslos und arbeitslos verkauft die verhärmte Frau eine Obdachlosenzeitung. Doch die meis-ten Käufer stecken ihr einfach so etwas zu. Sie sehen in ihr mehr die Hilfsbedürftige als die Zeitungsverkäuferin. Dabei hat sie ihren Standort geschickt gewählt: Wer seinen Einkaufswa-gen leer wieder zum Stellplatz zurückbringt, hat anschließend den Euro vom Wagenpfand in der Hand. Und statt umständlich die Geldbörse hervorzukramen, gibt mancher das Geld lieber der Frau mit der Obdachlosenzeitung.
Früher standen Bedürftige nicht an den Eingängen von Geschäften, sondern an Kirchentüren, insbesondere sonntags vor und nach den Gottesdiensten. Auch dieser Standort war gut ge-wählt. Die Kirchgänger hatten zwar kein Wagenpfand greifbar, aber ihr Herz und ihre Hand waren offener als werktags. Gottesdienst, Mitleid und Freigiebigkeit passten zusammen. Schon im Mittelalter gaben Christen nach dem Gottesdienst Almosen und brachten so zum Ausdruck: Barmherzigkeit gehört zum Christsein dazu.
Inzwischen sind Bettler an Kirchentüren weniger geworden, während die Verkäufer von Ob-dachlosenzeitungen vor Einkaufszentren zunehmen. In großen Städten sind die Discounter beliebte Standorte. Dafür gibt es praktische Gründe: Gottesdienste und Kirchgänger gibt es immer weniger, aber Einkaufen muss jeder. Und die lange Öffnungszeit am Samstag ist auch günstiger als die Gottesdienstzeiten.
Und: Am Einkaufszentrum sind sie nicht einfach Bettler, die um ein Almosen bitten, sondern sie sind Verkäufer. Sie verkaufen eine Zeitung und sind so auf doppelte Weise am richtigen Platz: Sie haben ihren Platz beim Supermarkt, wo auch ansonsten verkauft wird, und sie haben grundsätzlich auch einen Platz in der Gesellschaft. Denn Kaufen und Verkaufen sind anerkann-te gesellschaftliche Funktionen.
Deshalb ist es vielleicht gar nicht so gut, den Verkäufern einfach das Wagenpfand zuzustecken. Wer anderen Geld schenkt, macht sie – wieder - zu Almosenempfängern. Wir können die Zei-tungsverkäufer besser unterstützen in ihrem Wunsch, keine Bettler zu sein und einen Platz in der Gesellschaft zu haben. Indem wir nach dem Preis fragen, ihn bezahlen und die Zeitung mitnehmen. Aus Respekt vor dem Menschen.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=4972
weiterlesen...