Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Unterschiedlicher hätten die beiden Männer kaum sein können. Der eine war ein junger Punk. Ohren und Nase gepierct, Haare grün und rot, die Lederjacke mit merkwürdiger Bemalung und die Füße in schweren Stiefeln. Er saß auf der Fußgängerbrücke und bettelte aufdringlich: „Hey, Alta, haste ma en Euro.“
Der andere war offenbar ein Geschäftsmann. Typ junger Manager im klassischen, eleganten Anzug mit glänzenden schwarzen Schuhen. In der Hand hatte er eine kleine Papiertüte, offen-sichtlich mit seinem Mittagessen. Er war in Eile und ging zügig über die Fußgängerbrücke.
Als der Punk ihn sah, rief er wieder „Hey, Alta…“. Doch anstatt wie andere an ihm vorbeizuge-hen, bog der Geschäftsmann zu ihm ab, beugte sich zu ihm, sprach einige Worte, und gab ihm seine Papiertüte. Dann richtete er sich wieder auf und ging mit zügigen Schritten weiter.
Beide Männer hätten gut in die Bibel gepasst. Der Evangelist Lukas hätte den Punk vielleicht als Beispiel genommen für das Wort Jesu: Bittet und es wird euch gegeben, sucht und ihr wer-det finden, klopft an, und es wird euch aufgetan. Jesus ermuntert die Menschen ausdrücklich, Gott aufdringlich um seine Hilfe zu bitten. Er nennt als Beispiel eine hilflose Witwe, die einen Richter nur durch aufdringliches und unaufhörliches Bitten zum Handeln bewegen kann. Oder einen Mann, der seinen Nachbarn mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufscheucht, um sich ein Brot für einen überraschenden Gast zu leihen. So müsst ihr zu Gott beten, sagt Jesus, auf-dringlich, unnachgiebig. Fürchtet nicht, ungelegen zu kommen oder unwürdig zu sein. Seid so frei – wie der Punk zu dem Geschäftsmann.
Und der Geschäftsmann? Er wäre eine gute Illustration für ein Wort aus dem Alten Testament: Versage keine Wohltat dem, der sie braucht, wenn es in deiner Hand liegt, Gutes zu tun. Wenn du jetzt etwas hast, sag nicht zu deinem Nächsten: Geh, komm wieder, morgen will ich dir etwas geben. Jetzt brauchte der Punk etwas zum Essen, jetzt hatte der Geschäftsmann es in der Hand und jetzt gab er es bereitwillig her.
Die Begegnung zwischen dem Punk und dem Geschäftsmann vermittelt eine erstaunliche Er-fahrung: Es gilt noch immer, was vor tausenden von Jahren galt: Wenn du etwas brauchst, bitte darum, mag die Gelegenheit auch schräg oder unpassend sein. Du wirst sehen, du be-kommst, was du brauchst. Und wenn du helfen kannst, hilf mit dem, was dir gerade zur Verfü-gung steht, und vertröste nicht auf morgen.

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