SWR2 Wort zum Tag

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Zur Lebenskunst, der ars vivendi, gehört, das wussten schon die Alten, auch die Kunst des guten Sterbens, die
ars moriendi. Letztere ist der Prüfstein dafür, wie tragfähig die Kunst des guten Lebens ist.
Wie eng leben und sterben können zusammenhängen, ist mir an einem Interview klar geworden. Darin schildert
ein berühmter Trapezkünstler die gefährliche Arbeit der Artisten hoch oben in der Zirkuskuppel. Die Kunst, scheinbar schwerelos durch die Luft zu fliegen und sicher auf der anderen Seite zu landen.
„Als Luftspringer muss ich absolutes Vertrauen haben auf den, der mich auffängt“, sagt er. „Das Publikum meint immer, ich sei der Star am Trapez. Ich, der Flieger. Aber der wirkliche Star ist mein Fänger. Er muss für mich im Bruchseil einer Sekunde da sein und mich aus der Luft angeln, wenn ich in hohem Bogen auf ihn zufliege.“
„Klappt das denn immer?“, fragt der Interviewer. – „Die Kunst liegt darin“, sagt der Artist, „dass der Flieger nichts tut und der Fänger alles. Wenn ich auf meinen Partner zufliege, muss ich bloß meine Arme und Hände ausstrecken und darauf warten, dass der andere mich auffängt.“
„Und Sie tun dabei nichts?“ – „Nein, gar nichts“, sagt der Artist. „Das Schlimmste, was ich tun könnte, wäre, nach dem Fänger greifen zu wollen. Ich würde seine oder meine Handgelenke brechen, und das wäre für uns beide das Aus. Nein, ein Flieger soll nichts als fliegen, ein Fänger nichts als auffangen. Ich muss mit ausgestreckten Armen völlig darauf vertrauen, dass der Andere im richtigen Moment nach mir greift.“
„Das ist das ganze Geheimnis?“ – „Ja, dass der Flieger, der in die Leere hineinspringt, nichts tut. Und der andere, der Fänger, alles.“
Eine starke Vorstellung, finde ich. Eine, die mir klar macht, worin letztendlich die Kunst zu leben wie zu sterben besteht: in diesem Vertrauen, nicht abzustürzen, sondern aufgefangen zu werden. Ob man das lernen kann, solches Vertrauen?
Bevor Jesus stirbt, sagte er einen Satz, der voll gesogen ist von diesem Vertrauen:
„Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ In seiner Todesstunde sagt er ihn, in äußerster Verlassenheit.
Diesen Satz kann ich nachsprechen. Die Kraft, die darin steckt, kann ich mir zu Eigen machen. Und so lernen
zu vertrauen, dass Gottes Hände auch mich halten.
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