SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die Frau sah friedlich aus. Als würde sie schlafen. Aber es war meine erste Tote. Ich war 19 und machte ein Praktikum in einem Krankenhaus in Köln. Und sollte eigentlich nur das Frühstück austragen. Auch bei ihr, der Frau von Zimmer 317. Ich ging rein und wollte sie wecken. Als ich sie anfasste, wusste ich: Sie ist tot. Ich ließ das Frühstück Frühstück sein und bin schnell aus dem Zimmer raus, habe die Pflegeleiterin geholt. Aus Scheu? Aus Angst? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß: die Tote sah friedlich aus. Und trotzdem hat mich dieser Tod nicht losgelassen. Sicher: Im Krankenhaus zu sterben ist in Deutschland der Normalfall.
Mehr noch: der Tod überhaupt ist der Normalfall des Lebens. Denn jedes Leben endet. Und doch ist kein Tod normal.
Daran erinnert heute das Fest Allerheiligen. Heute gehen viele Menschen auf den Friedhof, besuchen Gräber, denken an Tote. Sie tun, was Menschen seit Jahrhunderten taten: Gräber mit Grün und Blumen schmücken, eine Kerze anzünden, still werden. Deshalb ist heute ein Tag, an dem schmerzhaft bewusst wird: Leben ist endlich. Der Tod gehört dazu.
Und damit Abschied, Verlust, Schmerz. Häufig auch bohrende Fragen: Welchen Sinn hat dieser Tod? Und drängender noch: Ist das gerecht? Oder: Wie kann Gott so etwas zulassen? Ich kenne keine leichten Antworten auf diese Fragen. Und wenn, helfen sie oft nicht weiter. Mehr noch: Ich glaube, dass solche Fragen zu Recht gestellt werden. Dass es, verdammt noch mal, so bitter sein kann, einen Menschen zu verlieren und dass sich Gott die Frage nach dem Warum gefallen lassen muss. Gerade, wenn Menschen nicht friedlich eingeschlafen sind, wenn der Tod plötzlich und viel zu früh kam.
Schon die Propheten im Alten Testament haben sich dieses Recht herausgenommen. Sie halten nicht den Mund, erstarren nicht in Ehrfurcht vor Gott und den religiösen Autoritäten. Sie bedrängen Gott, klagen ihn an, setzen ihm zu. Was ich spannend finde: Nirgendwo in der Bibel wird die Trauer mit billigen Antworten abgespeist. Trauer hat ihren Platz. Es darf getrauert werden. Und oft genug bleibt Gott stumm. Gibt keine Antwort auf Klage und Schmerz. Vielleicht, weil Gott selbst keine billige Antwort auf den Tod geben will und kann?
Auch in den biblischen Jesus-Geschichten zeigt sich deutlich: Trauer darf sein und muss sein. Sie wird nicht verdrängt und nicht weggeredet. Menschen kommen zu Jesus, trauern um die tote Tochter, den kranken Sohn, den verstorbenen Lazarus. Und immer darf diese Trauer sein.
Aber die Trauer und der Tod haben eben auch nicht das allerletzte Wort. In der Bibel sind es immer wieder Menschen, die die Trauer wenden. Menschen, die deutlich machen: Gott hält zu dir, ist dir nahe, in jeder Trauer, in jedem Schmerz. Es ist also vor allem die Nähe der Menschen, die von Gottes Nähe erzählen, indem sie da sind.
Trotzdem bliebt der Tod, schmerzt. Und viele Menschen, die mit dem Tod konfrontiert waren, berichten: Nach dem Tod ist alles schwierig. Alles Normale wird unnormal. Viele Trauernde berichten übereinstimmend: Ich habe mich erschreckt, als ich das erste Mal nach seinem Tod wieder gelacht habe. Ich habe mich geschämt, als ich ein ganzen Nachmittag nicht an meinen Toten gedacht haben. Ich kam mir wie ein Verräter vor.
Ich finde es tröstlich, dass der Glaube beides gelten lässt: den Tod und das Leben. Und vielleicht ist das auch die einzige Chance mit dem Tod umzugehen. Dass ich mit dem Tod leben kann. Denn wenn ich an den Toten denke, wenn ich meine Trauer ernst nehme, dann schenke ich auch dem Toten ein Stück Leben, eine Idee Auferstehung. Wenn mein Alltag, meine Lebenswünsche und der Tote einen Platz haben dürfen, dann stirbt der Tote nicht ganz. Ich behalte ihn im Herzen, lasse ihn bei mir sein.
Im großen Maßstab ist das auch die Hoffnung, die Christen auf Gott richten: Dass er alle Menschen, alle Toten in seiner großen Erinnerung aufbewahrt, dass sie einen Platz haben, über den Tod hinaus. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4812
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