SWR2 Wort zum Tag

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„Die Bedeutung der ungeschehenen Dinge im Leben“: Diese Worte stehen in einem fast 700 Seiten starken Buch des amerikanischen Historikers Fritz Stern. Stern wurde 1922 als Kind einer angesehenen jüdischen Familie in Breslau geboren und ist dort aufgewachsen. Die Sterns konnten 1938 buchstäblich im letzten Augenblick emigrieren und so der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten entkommen. „Fünf Deutschland und ein Leben“, so lautet der Titel des 2007 erschienenen Buchs, in dem Fritz Stern die Geschichte Deutschlands von der Kaiserzeit bis heute mit seiner eigenen Biographie verknüpft.
Eine kaum fassbare Fülle von Ereignissen wird in dem Buch ausgebreitet und macht die Dramatik der vergangenen 100 Jahre deutlich. Ebenso wird eine persönliche Lebensgeschichte vor dem Leser lebendig, die so reichhaltig ist, dass sie für mehr als ein Menschenleben reichen würde. So vieles hat sich ereignet. Und doch bleibe ich an diesen sieben Worten hängen: „die Bedeutung der ungeschehenen Dinge im Leben“. Das ist natürlich zuerst einmal grundsätzlich gemeint: Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn dieses oder jenes geschehen oder nicht geschehen oder anders geschehen wäre? Aber es ist auch eine ganz persönliche Frage, die sich wahrscheinlich jeder Mensch immer wieder einmal stellt: Wie sähe mein Leben heute aus, was wäre ich für ein Mensch, wenn ich in ein anderes Elternhaus hineingeboren worden wäre, wenn ich einen anderen Beruf ergriffen hätte, wenn ich mich in dieser oder jener wichtigen Frage anders entschieden hätte oder vielleicht nicht gescheitert wäre? Wenn ich in mancher Situation weniger oder auch mehr Glück gehabt hätte? Leben ist Entscheiden – bewusst oder unbewusst. Und immer, wenn ich mich für etwas entscheide, schließe ich anderes aus, endgültig. Auch die ungeschehenen Dinge gehören so zu mir. Und sie werden immer mehr, je länger ich lebe. Wenn ich zurückblicke, dann erscheint mir mein Leben als Fülle von Ereignissen, Begegnungen, Weichenstellungen – an vieles kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber dieses Leben ist auch nicht denkbar ohne all das, was nicht geschehen ist, was ausgeschlossen, versäumt oder verfehlt wurde – und wovor ich bewahrt wurde. In den ungeschehenen Dingen liegen die offenen Fragen.
Von Rainer Maria Rilke stammen die Worte: „Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=4627
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