SWR2 Wort zum Tag

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Welche Rolle spielt Religion im Staat? Der Tag der Deutschen Einheit ist Anlaß, über diese Frage nachzudenken. Ich gehe dabei aus von einem Satz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Und Böckenförde meint damit, dass ein Staat, der seinen Bürgern Freiheit gewährt, angewiesen ist auf die moralische Kraft eben dieser Bürger, und dass er weiter angewiesen ist auf ein gewisses Maß an Übereinstimmung unter seinen Bürgern. Beides, die moralische Kraft und die Übereinstimmung in grundlegenden Fragen, lässt sich nicht staatlich erzwingen. Es gehört ja gerade zu den Errungenschaften moderner Staaten, dass niemand auf eine bestimmte Weltanschauung verpflichtet wird. Die Freiheit, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben, ihn öffentlich zu praktizieren oder nicht, diese Freiheit ist mühevoll erreicht worden. Auch, dass die bürgerlichen Rechte und Pflichten unabhängig sind vom religiösen Bekenntnis. Aber ist damit Religion reine Privatsache geworden? Keine Größe von politischem Interesse? Böckenförde sieht Religion weiterhin als eines der Fundamente für das Zusammenleben der Menschen. Wenn aber der Staat die Religion nicht mehr seinen Ordnungen zugrundelegt, so soll sie deshalb nicht verschwinden. Sondern der Staat „vertraut darauf, dass die Religion aus der Freiheit selbst lebt und (aus der Freiheit) ihre Kraft als Grundlage für das Zusammenleben entfaltet.“ (20) Eine durchaus spannungsvolle Situation: „ein freiheitlich geordnetes Gemeinwesen ist einerseits auf Regulierungskräfte und vorausliegende Fundamente der Freiheit angewiesen, soll es nicht auseinanderlaufen ...; andererseits fehlt dem freiheitlichen Staat die Kompetenz, diese Kräfte einfach von sich aus herbeizuschaffen und zu gewährleisten.“ (20) Dies gilt übrigens nicht nur für Religion, sondern auch für Kultur, Kunst, gemeinsame Traditionen – sie alle sind, so Böckenförde, „Fermente des Zusammenlebens“. Was der Staat nicht garantieren und herbeischaffen kann, kann er aber sehr wohl begünstigen und stärken. Dabei ist als neue Herausforderung die Vielfalt der Religionen dazugekommen. Wenn Religion eines der Fundamente für die Ordnungen des Zusammenlebens ist, dann wird das interreligiöse Gespräch noch dringlicher. In allen Religionen, die in Deutschland beheimatet sind, gibt es Kräfte, die Verständigung suchen, die mit Andersgläubigen zusammen gesellschaftliche Verantwortung tragen wollen. Die nach gemeinsamen Positionen z.B. auch in ethischen Fragen suchen. Und die wollen, dass Glaube eine lebendige Realität ist und bleibt. Auf der andern Seite gibt es Kräfte, die polarisieren, die abgrenzen. Weltanschauliche Differenzen verursachen oder verschärfen dann gesellschaftliche Probleme. Dann führt Religion nicht zusammen, sondern sie trennt und spaltet. So verlieren alle Religionen an Strahlkraft und an Kraft, das Gemeinwesen zu unterstützen.
Der Staat kann Raum geben und Bedingungen schaffen für religiöses Leben. Glaubende Menschen müssen diesen Raum ausfüllen. Und zwar heute eben Menschen, die auf unterschiedliche Weise glauben.
(Sie müssen „aus ihrer Freiheit heraus“ und dem Schatz ihrer Überzeugungen, Haltungen und Traditionen... „den freiheitlichen Staat mittragen; denn davon hängt sein Fortbestand ab.“(22))
„Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ – die religiösen Voraussetzungen, von denen der Staat lebt, sind weiterhin da, aber sie sind heute auch selber schon ein Feld, das kräftig beackert werden muss. Vielleicht auch mit manchen neuen Früchten.
(vgl. zum Ganzen: Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der freiheitliche säkularisierte Staat...“
In: S. Schmidt, M. Wedell (Hgg), „Um der Freiheit willen...!“ Kirche und Staat im 21. Jahrhundert. Freiburg 2202, 19-23)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4614
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