SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die Hauptstraßen sind verstopft. Die Motoren der Autos und Mopeds knattern. Fahrräder klingeln und die hydraulischen Bremsen der Busse ächzen. Autohupen sind zu hören. Dazwischen mischen sich die erbärmlichen Schreie eines Esels und das freche Lachen meckernder Ziegen. Und über alledem ein undurchdringliches Gewirr menschlicher Stimmen. – Morgenkonzert in Addis Abeba.
Es geht chaotisch zu und laut, aber nicht hektisch und auch nicht aggressiv.
Ich sitze in einem Taxi. Der Wagen bewegt sich keinen Schritt vorwärts. Mein Fahrer zeigt sich gelassen. Statt in das Hupkonzert einzufallen, stimmt er ein Lied an. Es klingt nicht so wie unsere Lieder. Eine regelmäßi-ge Melodie kann ich nicht heraushören, vielleicht allenfalls noch einen Rhythmus erkennen, aber auch der kommt meinen europäischen Ohren eher ungewöhnlich vor.
Was er da singt, will ich von ihm wissen. Und er übersetzt mir den Text des Liedes, so gut er es eben in sein gebrochenes Englisch übertragen kann.
Aus dem, was er mir sagt, reime ich mir zusammen, dass es ein frommes Lied sein muss. Fast so etwas wie ein Choral, eine Art Schöpfungspsalm, ein Loblied auf Gott. Es bringt den Dank zum Ausdruck für das, was Gott geschaffen hat, und darüber, wie schön die Schöpfung ist.
Dazwischen kehrt eine Zeile immer wieder: „Deine Güte ist jeden Morgen neu.“ Das kommt mir vertraut vor.
Mitten im morgendlichen Verkehrslärm, mitten im Getöse der Hauptverkehrszeit an einem ganz normalen Werktag singt mein Taxifahrer „seinen Morgenchoral“. Das überrascht mich und fasziniert mich gleichzeitig. Ich spüre, dass seine heitere und gelassene Stimmung ansteckend auf mich wirkt.
In Deutschland würde man wahrscheinlich eher schreien, schimpfen, hektisch auf die Uhr schauen und wild herumgestikulieren. Mein afrikanischer Taxifahrer dagegen scheint alle Zeit der Welt zu haben – und das, obwohl in seinem Wagen kein Taxometer tickt, sondern der Fahrpreis fest verein-bart ist. Für ihn ist Zeit offenbar nicht Geld. Ruhig und entspannt lächelnd singt er „seinen Morgenchoral“.
Auch die letzte Strophe übersetzt er für mich – und ich vermute, sie ist improvisiert:
„Danke für diesen neuen Tag, mein Gott, Danke für meine Familie, für meine Kinder und für meine Arbeit, Danke für meine Fahrgäste. Deine Gü-te ist jeden Morgen neu.“ https://www.kirche-im-swr.de/?m=4563
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