Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Liebe lebt vom Abschiednehmen. Also: Je mehr Abschied, desto mehr Liebe. Sicher, auch die Ankunft hat sie gerne. Sich nach Wochen wieder umarmen zu können, das Fest des Wiedersehens zu feiern. Aber noch lieber hat die Liebe den Abschied, die zwei Stunden vorher, die schon kein Zusammensein mehr sind, und doch noch keine Trennung. Den Gang zum Bahnhof, bei dem sie nur denkt: Ich will nicht, ich will nicht! und dabei plaudert, wie wenn nichts wäre. Den letzten Blick auf den, von dem sie nie getrennt sein möchte und den sie doch immer wieder verlässt. „Machs gut. Bis bald. Wir telefonieren.“ Und die Liebe in längst vergangenen Zeiten fügte noch hinzu: „Behüte dich Gott!“ Dann ein letztes Zulächeln, ein Winken und das schön Verbundene, das wir noch einmal sehen und fühlen, zerreißt. Für ein paar Stunden, ein paar Tage, Wochen, Monate. Oder ein ganzes Leben.
Die Liebe lebt vom Abschiednehmen. Beide gehören zusammen, wie die Dornen zu den Rosen. Und es sind gerade die altmodischsten Gedichte, in denen das am schönsten gesagt wird. Wie in dem Gedicht von Victor von Scheffel. „Das ist im Leben hässlich eingerichtet, dass bei den Rosen gleich die Dornen stehen. Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet, zum Schlusse kommt das Voneinandergehen. In deinen Augen hab ich einst gelesen, es blitzt darin von Lieb und Glück ein Schein: Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen, Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
Am Ende steht das Abschiednehmen, das Voneinandergehen. Das tut weh. Aber unerträglich wäre es, wenn wir dabei nicht wünschen können: Behüt dich Gott! Gott, der dich behütet, bleibt und geht nicht fort. Er ist noch bei dir, wenn die Blumen verwelkt sind, die ich mitgebracht hatte, der Zug aus dem Bahnhof gefahren ist und er bleibt bei dir, wenn wir uns nicht mehr sehen können. Für ein paar Tage, ein paar Wochen oder für immer.
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