Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Im Krankenhaus besuche ich einen jungen Mann aus Tschetschenien. Er hat seine Frau durch eine Gasexplosion verloren; seine einjährige Tochter erlitt schwerste Verbrennungen im Gesicht und am Arm. Das Kind ist für sein Leben gezeichnet und muss immer wieder operiert werden, damit es ein halbwegs normales Leben führen kann.
Was für ein Schicksal! Und doch: Der Mann ist fröhlich und das Kind ist voller Tatendrang, obwohl sein Gesicht verbunden ist und an seinem Arm ein Schlauch hängt von der Infusion.

„Woher nehmen Sie diese Kraft?“ frage ich ihn.
Er sagt: „Ganz einfach: Ich schaue nicht nach Leuten, denen es besser geht. Wissen Sie, es gibt so viele auf Welt, die sind unzufrieden, weil sie dies nicht haben und das nicht haben. Sie merken gar nicht mehr, dass sie ein Dach
über dem Kopf haben und genug zum Essen und vielleicht auch noch gesund sind.
Ich bin einfach glücklich, weil meine Tochter noch ihr Augenlicht hat; sie kann ihre Hände benutzen und sie kann herumspringen und laufen. Die Ärzte hier tun ihr Möglichstes und die Deutschen nehmen uns immer wieder freundlich auf. Und zu hause hilft mir meine Familie. Sollte ich da nicht glücklich sein?“
„Schon“, sage ich, „aber mir würde das sehr schwer fallen.“

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. „Am Anfang war es auch sehr schwer“, sagt er. „Ich wusste ja nicht einmal, ob die Kleine überlebt. Aber dann, als es bergauf ging, wurde ich dankbar. Das Gute nehme ich gerne aus Gottes Hand. Muss ich dann nicht auch das Schwere annehmen?“

Die Tochter streckt ihm die Ärmchen entgegen. Als er sie auf den Arm nimmt, stopft die Kleine ihm alles, was sie greifen kann, oben in den Hemdausschnitt und gluckst dabei vor Freude.
„Sie denkt, ich bin ein Känguru“, sagt er und lacht.

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