Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Im festlichen Brautkleid steht die Braut auf den Stufen der Kirche. Sie strahlt: Sie wartet auf ihren Bräutigam. Sie freut sich auf ihn. Er kommt, und die Hochzeit kann beginnen. Als Pfarrer habe ich diese Szene gerade wieder erlebt.
Die Braut wartet den Bräutigam – dazu kommt mir noch ein ganz anderes Bild vor Augen. Das Bild von Schwester Materna, eine Ordensschwester, genau 100 Jahre alt, die betend in der Kirche sitzt. Von Ordensschwestern sagt man ja, sie seien „Bräute Christi“. Das heißt, sie sind ihm angetraut, sie leben in der inneren Verbindung mit Jesus und für ihn. Schwester Materna hat auf diesen ihren Bräutigam gewartet, dass er kommt und sie ganz zu sich holt, in den Himmel, zur Vollendung ihres Lebens. Kurz vor ihrem 100. Geburtstag habe ich sie das letzte Mal besucht, und da sagte sie mit einem Schmunzeln: „Ich glaube, er hat mich vergessen.“ Sie freute sie sich auf die letzte, große Begegnung mit ihrem Bräutigam. Vier Monate später hat er sie zu sich geholt. Sie ist ganz gelöst gestorben.
Schwester Materna hat ihrem Namen alle Ehre gemacht: Materna, die Mütterliche. Noch im hohen Alter hatte sie ein waches, weites Herz für die Menschen. Ich ahne, was das Geheimnis ihres Lebens war. Sie hat nicht nur am Ende ihrer Tage auf ihren Bräutigam Jesus Christus gewartet. Nein, sie hat jeden Tag auf ihn gewartet. Schwester Materna war davon überzeugt: „In den Mitmenschen begegne ich Jesus Christus.“ Deshalb hat sie sich umso mehr auf die Leute gefreut, die zu ihr kamen, dorthin, wo sie ihren Dienst getan hat und wo sie gelebt hat: in den Kindergarten, in den Handarbeitsunterricht, ins Kloster. Sie hat sich jedes Mal auch auf Jesus Christus gefreut, dem sie in den Menschen begegnete.
So hat sie das ganze Leben lang auf ihren Bräutigam Jesus Christus gewartet. Und so ist sie ihm immer wieder intensiv begegnet – in den Mitmenschen, in Gebet und Gottesdienst. Kein Wunder, dass ihr Blick noch im hohen Alter eine große Wärme ausstrahlte. Jedes Mal, wenn ich ihr begegnet bin, war ich von Schwester Materna fasziniert. Denn sie hat auf ihre Weise vorgelebt, dass ein Mensch durch die innere Verbindung mit Jesus Christus erfüllt leben und sterben kann. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4438
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