SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Manchmal können Schüler ihre Lehrer ganz schön nerven. Und das ist keine ganz neue Erfahrung.
Vor 2.000 Jahren traf es den berühmten Rabbi Schammai. Da kam eines Tages ein Schüler zu ihm und forderte ihn heraus: „Rabbi, was ist das Wichtigste in unserer Religion?“ Und als wäre die Frage nicht schon schwierig genug, setzte er provozierend hinzu: „Aber sag’ es mir in der Zeit, in der ich auf einem Bein stehen kann!“
Der berühmte jüdische Lehrer wurde zornig. „Was erlaubst du dir? Ich studiere schon ein ganzes Leben die Tora, die fünf Bücher Mose. Mit all’ ihren Geboten und Auslegungen. Und da soll ich eine kurze Antwort geben können?“ Schammai warf den Jungen kurzerhand aus dem Lehrhaus.
Der Schüler aber gab nicht auf und ging zu einem anderen großen Lehrer, zu Rabbi Hillel. Auch ihn bat er: „Sag’ mir, was ist das Wichtigste im Judentum, solange ich auf einem Bein stehen kann!“ Hillel blieb gelassen und antwortete: „Was du selbst nicht magst, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora. Alles andere ist Auslegung.“
Die Antwort hat Schule gemacht. Auch ein anderer prominenter Jude, Jesus nämlich, formulierte die »Goldene Regel« ganz ähnlich: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Darin besteht die Tora und die Propheten.“ (Mt 7,12).
Eigentlich ist ja alles ganz einfach. Wer seinem Nächsten Gutes tut, der erfüllt den Willen Gottes. Dann bedarf es der vielen Einzelgebote überhaupt nicht mehr. Immerhin enthält die Tora 613 Regeln, die ein strenggläubiger Jude kennen und einhalten sollte. Kein Wunder, wenn man da den Überblick verliert, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.
So sind dem Rabbi Schammai alle Vorschriften gleich wichtig. Sein Kollege Hillel aber hat sich den Blick für die Mitte des Glaubens bewahrt. Es kommt auf die Nächstenliebe an, auf das praktische Tun. Glauben ist demnach ein „Tätigkeitswort“. Das konkrete Handeln ist entscheidend, nicht das fromme Reden.
Jesus geht in seiner Verkündigung noch einen Schritt weiter. Er verbindet die Sorge um den Nächsten mit der Liebe zu Gott. Wer seine Mitmenschen nicht wahrnimmt, der kann auch Gott nicht begegnen.
Fromme Menschen erliegen immer wieder der Versuchung, den Glauben in eine Vielzahl von Regeln zu pressen. Dahinter steht der Wunsch, den Willen Gottes Punkt für Punkt zu erfüllen. Wer alle Gebote und Verbote peinlich genau beachtet, der meint, auf der sicheren Seite zu sein. So kann die Religion leicht zur Buchhalterei verkommen. Und zur Selbstgerechtigkeit. Denn wie schnell sieht man dann auf die Fehler der anderen, die diese Regeln offensichtlich übertreten.
Die biblischen Vorgaben haben anderes im Sinn. Sie sind, wie etwa auch die Zehn Gebote, Wegweiser für ein gelungenes Leben nach dem Willen Gottes. Sie geben also die Richtung an. Sie können aber mein Mitdenken nicht ersetzen. Wie erfülle ich sie im Alltag? Wie kann ich meinem Nächsten konkret helfen? Das Leben ist viel zu komplex, als dass es sich in das Korsett eines Regelwerks pressen ließe. Nächstenliebe kann man nicht „abhaken“. Es ist also doch nicht ganz so einfach.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,18) Kaum ein Satz wird so mit Jesus verknüpft wie dieser. Dabei hat ihn Jesus nicht erfunden. Er steht in der Tora, den sogenannten »Fünf Bücher Mose«, zusammen mit über sechshundert weiteren Regeln und Gesetzen.
Für Jesus ist die Nächstenliebe der Dreh- und Angelpunkt eines gläubigen Lebens. Der Mensch weiß sich von Gott angenommen, trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler. Das macht ihn fähig, auch seine Mitmenschen zu achten und ihnen beizustehen.
Damit schlägt Jesus eine Bresche durch das Dickicht der vielen gut gemeinten Vorschriften der Tora. So können auch alle die Menschen den Willen Gottes erfüllen, die keine Schriftgelehrten sind. Es genügt, ein reines Herz zu haben, barmherzig zu sein, sich um den Frieden zu bemühen.
Diese Einsicht wirkte auf viele Zeitgenossen Jesu wie eine Befreiung. Wer so denkt, der sprengt alle Grenzen. Auch die der eigenen Religion. Das erkannte auch Paulus aus Tarsus, ein gesetzestreuer Jude, einer der wichtigsten Gestalten der frühen Christentums.
In der Lesung des heutigen Sonntags denkt der Apostel darüber nach. Im Brief an die Römer schreibt Paulus: „Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (...) Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“ (Röm 13,8-10)
Paulus hat damit den Kern des Gesetzes, der Tora, getroffen. Damit folgt er auch der Lehre des Mannes aus Nazareth. Der Apostel weiß sich berufen vom auferstandenen Christus. Das genügt. Paulus begreift: Der Glaube ist kein starres Regelwerk, das den Menschen überfordert. In der Nachfolge Jesu kommt es allein auf die Nächstenliebe an. Und da gilt es, aufmerksam zu sein für die Nöte in meiner Umgebung. Wo kann ich konkret helfen? Welchen Streit kann ich beenden? Welchen Konflikt entschärfen? Wem schenke ich Zeit und Zuwendung? Wem kann ich das Leben leichter machen? Paulus drückt das einmal so aus: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2)
Was zählt, ist die Zuwendung zum Nächsten. Eine jüdische Geschichte erzählt das beispielhaft.
Ein alter Rabbi fragte seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte der eine. „Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man von weitem eine Dattelpalme von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“ „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ https://www.kirche-im-swr.de/?m=4437
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