SWR2 Wort zum Tag

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Am Boden sind sie kaum zu erkennen. Die Pfeiler-Reste der Wasserleitung, die in Mainz das Römerlager mit Wasser versorgte. Zwar liegen diese Pfeilerreste, soge-nannte »Römersteine«, tief in der Erde verborgen, denn die eigentliche Wasserlei-tung wurde schon lange abgerissen. Aber trotzdem gibt die Erde deutlich zu erken-nen, wo sie einmal verlief. Denn über Pfeilerresten wächst das Getreide nicht so gut. Es kommt zum »Mickerwuchs«, wie der Fachmann sagt. Selbst mit Dünger lässt sich das nicht ändern. Und deshalb kann man besonders aus der Luft sehr gut den Verlauf der römischen Wasserleitung sehen.
Um etwas richtig sehen zu können, ist es also wichtig, auf Distanz gehen. Das ist nicht nur bei den Resten römischer Baukunst so. Es gilt auch für das ganz normale Leben und Glauben. Abstand gewinnen ist immer wieder nötig. Denn erst aus der Distanz heraus, lässt sich erkennen, was wichtig und nebensächlich ist. Und den Überblick gibt’s bisweilen erst, wenn man sich entfernt.
Mit geht das mit meiner eigenen Geschichte auch so. Als Kind und Jugendlicher wa-ren die Auseinandersetzungen mit den Eltern wichtig. Ich wollte nicht so sein, wie sie. Und wir haben uns oft aneinander gerieben. Jetzt habe ich selber Kinder – und verstehe meine Eltern viel besser als noch vor wenigen Jahren. Der zeitliche Ab-stand gibt mir eine neue Übersicht über mein Leben – und verändert meine Sicht auf die Dinge. Ich erkenne besser, was gut war an der Erziehung meiner Eltern – und ich begreife, was ich wirklich anders machen möchte. Wo meine Eltern viel-leicht auch Chancen verpasst haben. So wie ich sicher bei meinen Kindern auch Chancen verpasse. Aber vor allem brauche ich diesen Abstand um zu sehen, was richtig und gut war.
Mir macht das Mut, immer wieder auf Distanz zu gehen. Mit der Hoffnung, dass ich dann einen Überblick gewinne – und dann erst, wie bei den römischen Pfeilerresten, erkenne, was gut wächst, und wo es vielleicht ‚Mickerwuchs’ gibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4378
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