SWR2 Wort zum Tag

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In regelmäßigen Abständen landet Jesus in den Titelgeschichten der gro-ßen deutschen Illustrierten. Meist zur Weihnachtszeit oder zu Ostern. Dann werden mehr oder weniger gut belegte Einsichten der historischen For-schung frisch aufgemacht.
Das Interesse am so genannten „historischen Jesus“ ist groß. Doch der Frage, wer Jesus wirklich war, ist allein über die Forschung schwer beizu-kommen. Das Bild Jesu ist stets von Glaubensüberzeugungen, von Hoff-nungen, von Erwartungen mitbestimmt. Das war schon zu Jesu Zeiten so, als ihn die einen als den „von Gott versprochenen Retter“ verehrten, wäh-rend ihn die anderen als einen „Gotteslästerer“ denunzierten.
Wahrscheinlich hatte Jesus an dem Bild, das seine Zeitgenossen von ihm gewannen, selbst nicht geringen Anteil. Er war eine kantige Persönlichkeit. Manche konnten sich über ihn aufregen und ärgern, weil er kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es etwas zu kritisieren gab; weil er offen diejenigen angriff, die als Funktionäre in Sachen Religion ihre Macht ausspielten.
Es gibt noch einen anderen Zugang zur Person Jesu. Der Glaube versteht ihn als Ausdruck wahren und erfüllten Menschseins. Als einen Spiegel, uns von Gott vorgehalten – nicht um uns zu belehren, sondern um uns zu be-schenken.
Viele Zeitgenossen erlebten Jesus als eine Person ihres Vertrauens: Als ei-nen Ratgeber, der sich Zeit nahm, um persönliche Schicksale anzuhören. Als einen Street-Worker, der sich nicht zu schade war, mit denen an einem Tisch zu sitzen, um die andere nur einen großen Bogen machen. Als einen Seelenarzt, der die Kraft hatte, Gestrandeten und Gescheiterten ihre inne-re Stabilität und Gesundheit zurückzugeben.
Das Geheimnis all dieser Aktivitäten war Jesu Liebe zu seinen Mitmen-schen. Er liebte sie in ihrer Ohnmacht und in ihrer Echtheit. Er liebte das an ihnen, was sie waren – nicht das, was sie vorgaben zu sein. Und noch-mals erstaunlicher wird diese Menschenliebe vor dem Hintergrund, dass es ausgerechnet ein Mann in einer patriarchal geprägten Gesellschaft war, der zu solcher Liebe fähig war; der die Bereitschaft zeigte, der Liebe den Vor-zug zu geben vor der Ehre oder der Tollkühnheit, vor der Macht oder dem Gehorsam.
Ein Mensch, der die Gewichte und Maßstäbe derart verschiebt und buch-stäblich aus der Rolle fällt – noch dazu ein Mann, ist gefährlich und muss aus dem Weg geräumt werden. So das Urteil. Und ein weiteres Mal erwies sich der Mann Jesus, der leidenschaftlich Liebende, als irritierend: statt seine eigene Haut zu retten, nahm er den Tod in Kauf.
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