SWR2 Wort zum Tag

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„Was sagen die Menschen über mich? Für wen halten sie mich?“ – hat Je-sus seine Jünger gefragt. Die sind um Antworten nicht verlegen. Tatsäch-lich ging Jesus sein Ruf voraus – und der war ambivalent: „Die einen hal-ten dich für einen Propheten, für den wieder auferstandenen Elia oder für Johannes den Täufer; die anderen sagen: ‚Er ist ein Fresser und Weinsäu-fer, ein Gotteslästerer.’“ Licht und Schatten!
Urteile sind schnell gefällt, vor allem Vorurteile. Wer in kein Schema passt, für den wird eines zurechtgezimmert. Der Frankfurter Schriftsteller und Theologe Wilhelm Willms bringt das in einem Gedicht treffend auf den Punkt: „Die Lügner sagen: Er ist ein Lügner. / Die Dichter sagen: Er ist ein Dichter. / Die Propheten sagen: Er ist ein Prophet. / Die Revolutionäre sa-gen: Er ist einer von uns. / Die Heiligen sagen: Er ist ein Heiliger. / Die Be-sitzenden sagen: Er ist ein Kommunist. / Die Nichtssagenden – sagen nichts.“
Das Urteil fällt also auf die Urteilenden zurück. Jesus – eine Projektionsflä-che für die eigenen Phantasien? Jesus – ein Spiegelbild unserer Befürch-tungen und Wünsche? Das wäre ein dürftiges Resultat. Wer war Jesus wirklich?
Die biblischen Evangelien erzählen die Glaubensgeschichten derer, die Je-sus erlebt haben – als Christus, als Heiler, als Mitmensch. Hier erzählen Menschen, die sich selbst schwach oder schuldig fühlten, verzweifelt oder zweifelnd waren, von ihren Begegnungen mit Jesus.
Das macht die Evangelien für mich so glaubwürdig – dass es Erfahrungs-geschichten sind von einfacher Menschlichkeit. Und das ist vielleicht auch der feine Unterschied zu jeder Art von Etikettierung – mag sie nun fromm oder gottlos sein. Im Zentrum steht nicht das Urteil, das festlegen will, sondern die Erfahrung – und die kann Erwartungen bestätigen oder durch-kreuzen.
Die Evangelien erzählen von Menschen, die in Jesus einem Menschen be-gegnet sind, der sie auf göttliche Art liebte – oder einem Gott begegnet sind, der auf liebevolle Art menschlich erschien. Der Unterschied ist einer-lei.
Das Gedicht von Wilhelm Willms hat noch eine Fortsetzung, die die in den Evangelien erzählten Erfahrungen bündelt:
„Die Liebenden sagen: Er empfindet wie wir. / Die Verlorenen sagen: Er hat uns gefunden. / Die Hungrigen sagen: Er ist unser Brot. / Die Blinden sagen: Wir sehen alles neu. / Die Stummen sagen: Wir wagen es wieder, den Mund aufzumachen. / Die Tauben sagen: Es lohnt sich, ihm zuzuhö-ren.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4144
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