SWR2 Wort zum Tag

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Der französische Philosoph Michel de Montaigne war ein stolzer Mann. „Messire Michel, Herr von Montaigne, Ritter des Königlichen Ordens und königlicher Kammerherr“, so nennt er sich. Zugleich dachte er bescheiden über sich selbst. „Que sais-je? – Was weiß ich?“, so lautet sein Wahlspruch. Die Widersprüche im eigenen Lebens und im menschlichen Miteinander verbieten uns jedes eindeutige Wissen, davon ist er überzeugt. Er nimmt vor über 400 Jahren fast die Skepsis heutiger Menschen vorweg. „Alle Widersprüche finden sich in mir“, schreibt er. Und an anderer Stelle: Ich finde „ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns den anderen“.
Das kann ich mit vielen eigenen Erfahrungen füllen: die Spannung etwa zwischen dem, der ich sein will und dem, als den ich mich tatsächlich erlebe; die Sehnsucht nach Liebe und die Bereitschaft zu lieben und die Brüche und Entfremdungen, die dies immer wieder trüben. Auch die Diskrepanz zwischen den öffentlichen Rollen, die wir spielen, und unserem wirklichen Selbst. Zu Letzterem sagt Montaigne, der ja durchaus in öffentlichen Ehren stand: „Die ganze Welt spielt Possen.“ Und er ist so nüchtern hinzuzufügen: „Wir müssen unsere Rolle anständig spielen, aber eben als die Rolle einer Theaterfigur.“ Es geht Montaigne nicht darum, zu verspotten oder gar zu verurteilen, nein, wir müssen die Dinge so sehen und annehmen wie sie sind. Wir werden dadurch menschlich, dass wir uns selbst gelassen in unseren Widersprüchen annehmen und dass wir auch den anderen Menschen annehmen und wahrhaftig mit ihm kommunizieren. Aber alle Erkenntnisse führen uns nicht weiter als bis zu der Frage: „Was weiß ich?“
Das gilt auch dafür was wir von Gott wissen und erkennen. Montaigne zitiert den Apostel Paulus mit den Worten: „Da die Menschen sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden. Und sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild des vergänglichen Menschen verwandelt.“ (Röm 1, 22f) Aber als gläubiger Mensch ist er auch gewiss, dass wir auf eine „göttliche und wunderbare Verwandlung“ zugehen. Dies erinnert mich an ein anderes Pauluswort: „Jetzt erkennen wir nur in Bruchstücken, wie in einem Spiegel, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, so wie auch ich ganz erkannt bin.“ (1. Kor 13, 12)
Montaignes gesamtes Bemühen gilt der ehrlichen Selbsterkenntnis. Und das Ziel dieser Erkenntnis, so sagt er, ist für ihn nichts weniger als „recht zu leben und recht zu sterben“. Ein bescheidenes Wort. Und zugleich ein großes Wort.


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