SWR2 Wort zum Tag

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Michel de Montaigne, ein französischer Denker des 16. Jahrhunderts, hat einen Satz geschrieben, über den ich nachdenken möchte. Er steht im letzten Kapitel seiner „Essais“, seiner „Erprobungen“, wie er sie selber nennt, und lautet: „Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist.“ Das bedeutet doch: Jeder Satz, den ich sage, ist Teil eines Gesprächs. Und zu einem wirklichen Gespräch gehört, , dass mein Gesprächspartner „mitgehen“ kann. Dessen muß ich mich vergewissern. Nicht nur das, was ich meine und sagen will, gehört zu einem Gespräch, sondern auch der Respekt davor, dass der andere Mensch es auf seine Weise aufnimmt und deutet. Denn es trifft bei ihm auf andere Erfahrungen, auf andere seelische Stimmungen, auf andere Fragen, auf eine andere Lebenssituation als die meine. In einem solchen Gespräch setze ich mich, mein Denken und Wissen einem lebendigen Prozess aus, der nach vorne offen ist. Die Wahrheit ist kein Besitz; sie will sich im Dialog suchen und finden lassen.
„Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist.“ Dieser Satz muss auch vor dem geschichtlichen Hintergrund von Montaignes Zeit gesehen werden. Sein Heimatland Frankreich war nach der Reformation durch jahrzehntelange Religionskriege zerrissen. Diese fanden ihren Höhepunkt in der so genannten Bartholomäusnacht, in der Tausende Protestanten ermordet wurden. Anschließend hat man die protestantischen Hugenotten aus Frankreich vertrieben. In dieser Zeit ragt der gläubige Katholik Montaigne heraus als einer der wenigen Besonnenen unter Fanatikern; er stellt Verstehen und Respekt über alle mit Gewalt durchgesetzten Interessen.
Ich lese Montaignes Satz heute vor dem Hintergrund einer Zeit, in der allüberall Konferenzen, Runde Tische und Diskussionen stattfinden. Doch ist dabei so wenig Einfühlung zu spüren, dass andere mit Fug und Recht anders denken und leben. Ich lese ihn vor dem Hintergrund eines Widerstreits zwischen den monotheistischen Religionen, den man sogar als „Kampf der Kulturen“ bezeichnet hat. Und doch wird es keinen Frieden geben, wenn die großen Religionen nicht miteinander sprechen und sich nicht in ihren tiefsten Anliegen zu verstehen suchen. Ich denke bei Montaignes Worten auch an die Ökumene unter Christen. Hier geht es oft mehr darum, sich zu profilieren, statt sich in aller Verschiedenheit zu versöhnen. Schließlich lese ich den Satz von Montaigne im Bewusstsein unserer alltäglichen Rechthaberei.
„Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist.“ Nur im Dialog nähern wir uns der Wahrheit. Michel de Montaigne, der Denker des 16. Jahrhunderts, kann uns dazu ermutigen.

1 Hans Peter Balmer, Montaigne und die Kunst der Frage. Grundzüge der Essais, Tübingen 2008.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4127
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