SWR2 Wort zum Tag

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Durch das Büchlein eines Freundes bin ich jüngst auf Michel de Montaigne gestoßen, einen französischen Politiker und Denker aus dem 16. Jahrhundert. Mich hat sofort gefesselt, wie aktuell sein Denken und seine Fragen sind.
Als Montaigne 38 Jahre alt ist, gibt er seine politischen Ämter in Bordeaux auf und zieht sich in den Eckturm seines Schlosses zurück. Dort entstehen in den folgenden 20 Jahren – bis zu seinem Tod im Jahr 1592 – seine „Essais“, übersetzt: „Versuche“, „Erprobungen“. Montaigne selber hat seinem umfangreichen Werk diesen schlichten Titel „gegeben, „Ihn leitet darin die Frage: „Que sais-je? – Was weiß ich?“ Er hat diese Frage sogar als Lebensmotto in eine Medaille prägen lassen.
„Was weiß ich?“ Montaigne ist ehrlich und realistisch, und er ist bescheiden. Dabei war seine Zeit in doppelter Weise vom Drang nach Wissen geprägt. Die beginnenden Naturwissenschaften versuchten systematisch die Welt zu enträtseln und zu erklären. Verheerende Religionskriege ließen die zerstrittenen Christen nach etwas Beständigem, Gewissem in ihrem Glauben suchen. In dieser Situation geht Montaigne der schlichten Frage nach: „Was weiß ich?“ „Nicht belehrend will er sein, sondern belehrbar“. Die Wissenschaften und auch die Theologie versuchten, ihren Wahrheitsanspruch mit mathematischen Methoden durchzusetzen, die Religionsführer mit militärischer Gewalt. Dagegen „erprobt“ Montaigne sein Denken, indem er sich mit den vielfältigen und oft widersprüchlichen Erfahrungen des eigenen Lebens auseinandersetzt, ebenso auch mit den Erfahrungen und dem Denken anderer. Die Vielfalt menschlichen Lebens macht ihm deutlich, dass es Geheimnisse gibt, vor denen alle Bescheid wissenden Antworten versagen. Und er gibt zu, dass sich seine eigene Persönlichkeit durch das Denken und Schreiben immer weiter formen muss.
Was weiß ich? Diese Frage tut wohl und entlastet. Auch heute suchen die modernen Wissenschaften die letzten Rätsel der Welt zu entschlüsseln und Mensch und Natur nach ihrem Bild zu formen. Auch heute tritt die Religion immer wieder mit dem Anspruch auf, die Wahrheit zu besitzen. Auch heute konfrontieren wir uns gegenseitig mit unserem exakten Wissen. V on Montaigne kann ich lernen: ich muss und darf mich mit der Vielfalt meiner Lebenserfahrungen auseinandersetzen; ich muß und darf meinen Glauben stets suchen. So forme ich mich selbst, ein Leben lang. Und es werden immer mehr Fragen bleiben als Antworten.

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