Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Der ICE stand bereits seit einer Dreiviertelstunde auf freier Strecke. Der Zugführer hatte es aufgegeben, uns Fahrgäste im Zehnminutentakt zu vertrösten. Die Klimaanlage war ausgefal-len, und in den dicht geschlossenen Wagen stieg nicht nur die Temperatur, sondern auch der Ärger. Lauthals machten sich einige Luft über die Unfähigkeit der Bahn und die Ungewissheit, wann es endlich weitergeht. Ein älterer Herr verfolgte diese Gefühlsausbrüche mit einem Schmunzeln. Auf die Frage eines jungen Mannes, ob er sich denn nicht ärgere, antwortete er nur: „Ach, wisse Sie, des is kein Gegenstand for mein Zorn.“
Wie die Luft aus einem Ballon ließ er mit diesem Satz den Druck aus unserem Ärger ab. Denn er hatte ja recht: Was zwang uns eigentlich, uns über etwas zu ärgern, für das wir nicht ver-antwortlich waren und das wir nicht beeinflussen konnten? Der Volksmund sagt: Sich ärgern heißt leiden für die Fehler anderer. Und das muss man nicht. Man kann selbst entscheiden, was man zum Gegenstand seines Zornes oder Ärgers macht – und kann sich auf diese Weise vielleicht manchen Ärger ersparen.
Eine solche Haltung schützt die eigene Unabhängigkeit und bewahrt die Freiheit zu tun, was man wirklich will. Das gilt für die Versuchung, sich unnötig zu ärgern. Das gilt aber auch für größere Versuchungen, sich zu etwas locken oder manipulieren zu lassen, was man eigentlich nicht will.
Papst Gregor der Große sah in Johannes dem Täufer so einen Menschen, der sich nicht wie ein schwankendes Schilfrohr äußeren Verhältnissen oder oberflächlichen Gefühlen beugte. Sondern feststand in seinen Auftrag. Und diesem Auftrag in Freiheit folgte. Der Papst fasst diese Hal-tung in den Worten zusammen:
„Keine Schmähung soll uns zum Zorn reizen, keine Gunst uns zu schlaffer, nutzloser Gefällig-keit beugen. Wohlergehen soll uns nicht eitel machen, Unglück uns nicht verwirren.“
Für den Papst war klar, was Johannes zu solcher Freiheit befähigt: Wer sich an Gott bindet, hat einen festen Punkt, von dem aus er die Umstände beurteilen kann - und nicht selbst dem Druck der Umstände unterliegt. Wer so frei ist, bestimmt zum Beispiel selbst, was ein Gegens-tand für seinen Zorn ist. Nicht nur, wenn der ICE liegen bleibt.


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