SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Auf den ersten Seiten der Bibel wird erzählt, wie Gott die Erde und den Kosmos erschaffen hat. In einer alten mythischen Erzählung, die von wun-derbarer poetischer Kraft ist und fast schon einem Gedicht oder Lied gleicht, wird besungen, wie Sonnen und Planeten, Meere und Kontinente, Pflanzen und Tiere von Gott ins Leben gerufen wurden.
Diese Musik hat es nicht verdient, wie ein trockener naturwissenschaftli-cher Bericht gelesen zu werden. Wer ihre Wahrheit verstehen will, muss ihre Poesie zu verstehen suchen.
Gott wird uns als ein unermüdlich kreativer Geist vorgestellt, der in Wort und Tat die Fülle all dessen, was es gibt zwischen Himmel und Erde, aus sich heraussetzt. Ein Künstler, ein Werkmeister, ein Komponist. Über sei-nem göttlichen Schöpfungswerk gehen sechs Arbeitstage ins Land. Am En-de des sechsten Tages – sozusagen kurz vor Feierabend – hat Gott noch einen besonderen Gedanken: Etwas scheint im bunten Tierparadies zu Wasser, zu Lande und in der Luft zu fehlen – etwas ganz Besonderes. Ein Wesen, das ihm gleich sei, als sein Gegenüber – der Mensch.
Die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag der Schöpfung ist oft so verstanden worden, als sei der Mensch die Spitze der Pyramide – die Kro-ne der Schöpfung. Das edelste und beste unter allen Geschöpfen. Dasjeni-ge Geschöpf, das Gott in der Hierarchie der Lebewesen am nächsten kommt. Manche Kritiker der biblischen Schöpfungserzählung meinten so-gar, der Mensch habe sich hier nur selbst ein Denkmal setzen wollen.
Die maßlose Selbstüberschätzung des Menschen führt bekanntlich zu ver-heerenden Folgen für unsere natürliche Umwelt. Geschichtlich gesehen hat der Mensch lange gebraucht für die Einsicht, dass sein herrschaftliches Haushalten auf der Erde den Heimatplaneten an den Rand des Ruins bringt. Länger jedenfalls als für die Ausbildung seines Bewusstseins, etwas Besonderes zu sein.
Gewiss – in der Schöpfungserzählung ist vom „Ebenbild Gottes“ die Rede, das der Mensch darstellt. Darin liegt seine besondere Größe, aber auch seine eigentümliche Aufgabe: nämlich für die Schöpfung Verantwortung zu tragen.
Doch ganz nebenbei kann die Schöpfungserzählung den Menschen auch Bescheidenheit lehren. Ein Spruch aus dem jüdischen Weisheits- und Le-benslehrbuch, dem „Talmud“, kehrt den Spieß auf humorvolle Weise ein-fach um. Da gilt es keinesfalls als ausgemacht, dass das Beste erst am Schluss kommt: „Warum wurde der Mensch am letzten Tag erschaffen?“, wird im Talmud gefragt. „Damit man ihm, wenn ihn der Stolz packt, sagen kann: Die Mücke ging dir in der Schöpfung voraus.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3829
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