SWR4 Abendgedanken RP

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Ist Ihnen schon einmal einer begegnet: ein Engel?
Ich meine nicht in der Weihnachtszeit,
sondern so richtig, im wirklichen Leben:
ein Engel im Juni zum Beispiel.
Es hat einmal jemand gesagt:

„Alle Vernunft ist dagegen,
und alles gesunde Empfinden spricht dafür“ (Samuel Butler).



Teil I

Wenn Engel in unser Leben hineinfunken,
dann sind das sehr persönliche Erfahrungen.

In einem Brief
hat mir vor einiger Zeit eine junge Frau von einer solchen Erfahrung erzählt:

„Als meine Mutter noch eine Jugendliche war, da bekam sie in dem Kindergarten, in dem sie arbeitete, drei Bilder mit Bibelversen geschenkt. Mir, der Tochter, vermachte sie das Bild, auf dem ein kleines Mädchen über eine schmale Holzbrücke geht. Die führt über eine Schlucht. Das Mädchen scheint nichts davon zu bemerken, es strahlt und geht fröhlich seinen Weg. Denn ein Engel geht hinter ihm und breitet seine Flügel aus, um es vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Und unter diesem Bild stehen die Worte: Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen (Ps 91,11). Dass dies nicht bloß leere Worte waren, sondern dass sie in meinem Leben wirklich und wahr geworden sind, das wird mir bewusst, wenn ich an den schweren Unfall denke, den ich als vierjähriges Kind hatte. Meine Mutter erzählte, ich habe damals schon mit einem Fuß im Grab gestanden, und die Ärzte hätten es als ein Wunder angesehen, dass ich davon kam“.

Engel haben ihre ganz eigene Stunde.
Sie machen sich bemerkbar in kritischen Augenblicken des Lebens.
Wenn es gefährlich wird,
tauchen sie auf und tun das, wozu sie von Gott beauftragt sind:
sie gehen mit,
führen hindurch,
sie tragen über eine abgründige Situation hinüber.
Und wie sie aufgetaucht sind, verschwinden sie auch wieder,
wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben.
Doch sie hinterlassen Spuren in uns,
- zum Beispiel eine tief empfundene Dankbarkeit -
nachhaltige Spuren, die den Menschen prägen,
der so etwas erlebt hat.
Natürlich kann man da nichts verallgemeinern und zu einer Glaubensnorm erheben.
Engel, so überraschend und flüchtig wie sie sind,
lassen sich nicht einfangen in einem Netz theologischer Sätze.
Und doch sind ihre Geschichten in sich gültig und wahr.
Der Mystiker Swedenborg hat einmal gesagt:
„Viele glauben, es sei alles ausgedacht.
Aber ich lasse mich nicht verunsichern,
denn ich habe gesehen,
ich habe gehört und ich habe gefühlt“.

Davon ist auch die Rocksängerin Jule Neigel überzeugt,
in einem ihrer Lieder heißt es:

Ich hab da plötzlich das Gefühl,
Sie sind ganz sicher um uns rum.
Du glaubst, es gibt sie nur im Traum
und im Evangelium.
Sie tragen keine weißen Flügel
und auch keinen Heiligenschein.
Sie sind gekommen auf die Erde,
um für uns alle da zu sein.

Sie folgen dir auf Schritt und Tritt
und schützen dich vor der Gefahr.
Sie schweben ständig in der Luft,
doch für deine Augen sind Sie unsichtbar.
Sie sorgen sich um unseren Frieden,
um zu helfen sind Sie hier.
Sie schauen uns von oben zu,
weil Sie weiter sehen als wir.

Wenn die Engel reisen geh’n,
dann wandern sie ganz leis‘
von Tür zu Tür.
Wenn die Engel reisen geh’n,
dann klopfen Sie auch irgendwann bei dir.
Wenn die Engel reisen geh’n,
dann lass‘ Sie rein zu dir.


Die Engel gehören in den reichen Schatz religiöser Erfahrungen der Menschheit.
Gleich erzähle ich Ihnen,
wie die christliche Vorstellung von den Engeln uns bis heute prägt.


Teil II
Die Kirche hat dem Gedächtnis der Engel einen eigenen Tag gewidmet.
Es ist Michaelis, der 29. September:
„Tag des Erzengels Michael und aller Engel“
vermerkt der liturgische Kalender der evangelischen Kirche.
Die katholische Kirche begeht am gleichen Tag
das „Fest der Erzengel Michael, Gabriel und Raffael“
und drei Tage später, am 2. Oktober, das Schutzengelfest.

In der christlichen Vorstellung von den Engeln
sind zwei verschiedene religiöse Erfahrungen aus biblischer Zeit zusammen gekommen.

Da sind einmal die „Diener Gottes“,
der Prophet Jesaja vermittelt uns eine Ahnung davon:

„In dem Jahre, da der König Usia starb, sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Throne sitzen, und seine Säume füllten den Tempel. Seraphe standen über ihm. Ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien bedeckte er sein Angesicht, mit zweien bedeckte er seine Füße, mit zweien flog er. Und einer rief dem anderen zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! Die ganze Erde ist seiner Herrlichkeit voll“ (Jesaja 6,1-3).

Die himmlischen Heerscharen halten sich in Gottes allernächster Umgebung auf:
Vor dem Thron
- das ist das Zentrum der Macht schlechthin,
also genau die Stelle,
an der die Fäden der Welt, die wir Menschen nie zusammen bekommen,
zusammen laufen -
dort beten sie unaufhörlich den Herrn der Welt an.

Diese Engel strahlen etwas von der Unnahbarkeit Gottes aus,
von seiner Fremdheit.
Sie machen uns sensibel für die machtvollen Energien, die von Ihm ausgehen,
ja auch für das Unheimliche in Ihm, das uns manchmal zu schaffen macht.
Gott ist das Geheimnis,
das über unserem Leben und der ganzen Welt waltet.
Vor diesem Geheimnis
können wir uns,
zusammen mit den „Himmlischen Heerscharen“,
nur ehrfürchtig verneigen.

Daneben erzählt die Bibel in ihren ältesten Schichten
von sehr alltäglichen Begegnungen mit Engeln.
Die suchen die Menschen dort auf,
wo sie sich gerade aufhalten.
Etwa den müden Elia,
als er sich in die Wüste zurückgezogen hat und nichts mehr hören und sehen will:

„Da wünschte sich Elia den Tod und sprach: Es ist genug! So nimm nun, Herr, mein Leben hin.... Dann legte er sich unter einen Ginsterstrauch schlafen. Auf einmal aber rührte ihn ein Engel an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und als er sich umschaute, siehe, da fand sich zu seinen Häupten ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und Elia stand auf, aß und trank und wanderte dann kraft dieser Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg“ (nach 1. Könige 19,4-8).

Gott kann Menschen jemanden über den Weg schicken,
gleichsam inkognito,
um ihnen für einen kurzen aber entscheidenden Augenblick ihres Lebens
nahe zu kommen und herauszuhelfen.
In einem Lied von Rolf Krenzer heißt es:

Hände wie deine,
wie du sein Gesicht.
Und er kommt von Gott,
und du weißt es noch nicht
und wirst nie sicher sein.
Das kann ein Engel, wirklich ein Engel
gewesen sein.



Wir Menschen leben niemals unter einem abgeschlossenen Himmel nur mit uns selbst allein.
Unsre Welt ist durchlässig von oben her.
Gott besucht uns.
Darüber gleich mehr.

Teil III
Ich bin davon überzeugt:
Gott schickt auch heute Engel zu uns.
Er überrascht uns mit ihnen.

Manchmal fühlt man ja richtig eingezwängt in seiner kleinen Welt,
und es scheint sich überhaupt nichts zu bewegen,
so verschlossen zeigt sich der Himmel.
Und dann kommt jemand zu mir,
besucht mich,
wir kommen ins Gespräch,
es geht mühsam und schleppend,
aber ich fasse Vertrauen.
Und während wir so miteinander reden, spüre ich plötzlich, wie sich etwas verwandelt.

Es löst sich etwas, wo eben noch alles zu war.
Und im Nachhinein scheint es ganz seltsam:
Dass ausgerechnet dieser Mensch da bei dir gewesen ist,
und dass sich das Gespräch mit ihm gerade so jetzt ergeben hat,
das ist etwas ganz Besonderes.
„Dich hat der Himmel geschickt“,
diese Redewendung drückt es aus.
Da ist jemand aus einer anderen Welt zu mir gekommen.
Von dorther, wo man weiter sieht, als ich momentan gesehen habe.War es Zufall? Oder Gottes Engel, der da bei mir war?
Ich kann nie sicher sein.

Engel haben etwas Schwebendes.
Nicht wegen ihrer Flügel.
Sondern weil das, was sie tun, sich ganz und gar den Möglichkeiten Gottes verdankt.
Ich kann sie nicht herbeizitieren,
sie kommen einfach, wenn Gott sie schickt.

Im hebräischen Namen des Erzengels „Michael“ ist diese Erfahrung festgehalten.
Sein Name ist nämlich eine Frage:
Mi-cha-el heißt auf deutsch „Wer ist wie Gott?“.
Die Antwort darauf geben wir mit unserem Leben.
Sie hängt davon ab, wie offen wir sind für das, was Gott kann.
Welchen Stellenwert gebe ich den Dingen,
die mir zu schaffen machen?
Wie gehe ich mit Problemen um, die immer mehr werden
und mein Denken und Fühlen zuwuchern wie ein undurchdringliches Dickicht?

Lasse ich mich davon einschüchtern,
verkrieche mich und werde darüber ganz klein und ängstlich?
Oder sage ich mir:
Wer sitzt wirklich auf dem Thron?
Michael! Denn: Wer ist wie Gott!

Nichts und niemand, der mir das Herz schwer macht,
ist so mächtig wie Gott.
Keine Macht der Finsternis kann ernsthaft und auf Dauer mit ihm konkurrieren.

Mir gibt das Kraft, schwere Zeiten durchzustehen.
Und ich kann, solange die Kraft reicht,
mich wehren und kämpfen.
Und selbst wenn meine Kraft verbraucht ist,
bin ich nicht am Ende.
Davon bin ich überzeugt:
Die guten Mächte, die Gott schickt,
seine Engel,
hüllen mich ein,
wie ein Mantel aus Licht.
Darauf hat auch Martin Luther vertraut.
Und am Abend gebetet:

Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn,
dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast,
und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünden, wo ich Unrecht getan habe,
und mich diese Nacht auch gnädiglich behüten.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir,
dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3826
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