Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Zukunft ist auch nicht mehr das; früher war sie einfach besser. An so einem Satz hatte Karl Valentin diebischen Spaß. Auch an der Diskussion, ob es Semmel-knödel oder Semmelnknödeln heißt. Schon lange ist Karl Valentin tot, aber seine Sprachspiele und sein „unsinniges Geschwätz“, das er zu einer Kunstform machte, leben weiter. Heute hätte er Geburtstag – wenn er noch leben würde. Denn Valen-tin wurde 1882, vor 126 Jahren geboren.
Valentin war mehr als nur ein Kabarettist. Nur Witze reißen, das wollte er nicht. Was er machte: Er dreht die Sprache durch den Fleischwolf des Denkens. Stocherte in den Widersinnigkeiten der Sprache herum. So lange, bis man nicht mehr wusste, was man überhaupt noch sagen konnte. Noch heute fordert Valentin unsere Schrift- und Sprachkultur heraus. Auch den Glauben. Denn Christentum, Judentum und Islam sind Schriftreligionen. Sie trauen der Schrift und dem Wort alles zu. Nicht von ungefähr sind ihre Basis Heilige Schriften. Nicht von ungefähr beginnt mit Worten fast alles in diesen drei Religionen.
Erste Szene. Schon ganz am Anfang steht das Wort. Am Anfang der Welt. Schöp-fung beginnt, indem Gott spricht. Er sagt: „Es werde Licht“ – und es wird Licht.
Zweite Szene: Jesus, das erzählt die Bibel, heilt Menschen. Sein bevorzugtes Re-zept: Worte statt Salben. Selbst einen toten Jungen macht er lebendig, indem er zu ihm nur sagt: „Steh auf“.
Beide Szenen erzählen: Das Wort hat eine enorme Kraft. Es macht lebendig. Aber auch das Gegenteil hat wohl jeder schon mal erlebt. Dass ein Wort verletzt, kränkt, manchmal sogar trennt und zerstört. Karl Valentin hat das entlarvt. Hat gezeigt, wie gewalttätig Sprache sein kann. Wie wirkmächtig Wörter sind. Deshalb mag ich den komischen Komiker aus Bayern. Weil er mir immer wieder bewusst macht, wie Wörter wirken können. Weil er beflügelt, mit anderen Menschen zu sprechen , und weil er mich ab und zu zum Glück daran hindert, Worte zu sagen, die ich nicht mehr zurückholen kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3819
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