SWR2 Wort zum Tag

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04JUN2008
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Am ersten Morgen meines Urlaubs in Lissabon suche ich eines Morgens einen kleinen Laden, der Obst verkauft. Ich finde erst nach langem Suchen ein solches Geschäft, auf dem Weg entdecke ich aber 5 Buchhandlungen. Ich habe noch nie eine Stadt mit so vielen Buchhandlungen gesehen wie Lissabon!
Salazar, der langjährige Diktator Portugals, hatte auf der einen Seite die Alphabetisierung auf seine Fahnen geschrieben und ein Ständesystem aufgebaut, bei dem Analphabeten von der Wahl ausgeschlossen waren, auf der anderen Seite hatte er Anders-Denkende brutal verfolgt. Gegen Ende seines Lebens war er verwirrt und erlebte nicht mehr, dass er gescheitert war. Man kann Menschen nicht das Lesen beibringen und sie gleichzeitig vom Denken abhalten wollen.
Nach dem Ende der Diktatur, nach der Nelkenrevolution 1974 haben die Portugiesen offenbar das Lesen mit noch größerer Leidenschaft für sich entdeckt - bis heute. Die Lissaboner Buchhandlungen legen dafür lebhaft Zeugnis ab. Ich finde: Mit den Buchstaben, die wir lesen, wird zugleich unsere Seele beschrieben. Martin Luther wollte, dass die Menschen die Bibel lesen konnten - in ihrer Sprache. Er wollte, dass die Botschaft der Bibel ihre Seele berühren konnte. Martin Luther nahm die Menschen ernst, er traute ihnen zu, selbständig lesen und verstehen zu können. In der Bibel wird erzählt, dass ein Prophet ein Buch essen soll, als symbolische Handlung. In der Tat: Wer intensiv liest, verinnerlicht das Gelesene, verdaut es, macht es sich zu eigen. Auf dem Rückweg vom Obstladen in Lissabon verspeise ich genüsslich eine Banane und denke darüber nach, dass der Mensch tatsächlich mehr braucht als Obst und Brot - er braucht auch Bücher-Nahrung, ich jedenfalls. Ich kenne das Gefühl, nach einem guten Buch zu hungern, denn tatsächlich gibt es auch Bücher, nach deren Lektüre ein schaler Beigeschmack bleibt.
Bei der Bibel geht es mir nie so. Wie bei ihr bekomme ich bei anderen guten Büchern Appetit auf mehr. Übrigens entdecke ich beim Lesen immer wieder auch Metaphern und Themen, die sich der Bibel verdanken. Da haben Autoren gelesen und verdaut und sich anregen lassen - zum Denken und zum Schreiben. Lesen und Denken gehören zusammen. Die Bibel regt zu beidem an.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3783
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