SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Wenn ich 65 Jahre alt sein werde, wird man mir sagen: „Hey, du wirst alt!“ Das sagte mir unser Sohn zwar schon, als ich noch Anfang vierzig war. Da habe ich noch gelacht. Inzwischen Mitte fünfzig denke ich: Langsam wird es ernst. Deshalb schaue ich inzwischen genauer hin – und frage mich: Wie geht es denen, die älter werden? Und ich erfahre: Schon heute sind weit über zwanzig Prozent der Menschen in Deutschland über 65 Jahre alt. Im Jahr 2030 werden es 36 Prozent sein, zu denen auch ich gehören werde.

Auch beobachte ich: Die Älteren von heute sind kreativer, aktiver und selbstbewusster, als es die Generationen meiner Eltern und Großeltern waren. Sie haben mehr Spielraum für die Familie, mehr Zeit für Spaziergänge und Konzertbesuche, mehr Möglichkeiten zum Reisen. Davon träume ich schon heute. Viele Alte wollen nicht betreut werden, sondern sich vielmehr auch ehrenamtlich einsetzen für andere. Kaum eine Verabschiedung in den Ruhestand, wo das nicht gesagt wird. Hausaufgabenhilfe für Kinder ausländischer Herkunft, Besuchsdienst im Krankenhaus, Besorgungen für die Nachbarn – ich kenne viele, die das im Alter tun. Und das ist gut so. Mir scheint, das Altwerden ist zuerst ein Geschenk, das ich teilen kann. Altwerden ist nicht eine Bedrohung, die ich verdrängen müsste. Ich kann dankbar sein, dass ich älter werden darf – und ich kann diesen Dank andere spüren lassen. Und bekanntlich ist Alter etwas Relatives und muss nicht altern bedeuten.

Die Geschichten der Bibel sind in dieser Hinsicht reich an Bildern: Hohes Alter ist Geschenk Gottes. Die Bibel rechnet damit, dass man im Alter noch einmal neu aufbrechen kann. Das wird im Alten Testament von Abraham und Sara, Isaak und Jakob erzählt. Die Mütter und Väter im Glauben waren alles andere als verzweifelte Menschen, sondern wurden auch und gerade im Alter immer wieder zu lebenshungrigen, neugierigen und sehnsüchtigen Zeitgenossen. Der Jugend wird im Vierten Gebot mitgegeben, die Alten zu ehren, „auf dass du selbst lange lebest auf Erden“. Und alte Menschen dürfen sich bis heute auf Gottes Zusage verlassen: „Ich will euch tragen, bis ihr grau werdet“ (Jesaja 46, 4). Ich finde es erstaunlich, dass in anderen Kulturen, etwa in Afrika und Asien, das Alter mehr beachtet wird als bei uns in Europa. Die Ältesten verdienen Respekt und Hochachtung, ja man vermutet sie sogar näher bei Gott.

Die biblischen Geschichten verstärken ebenso den Sinn für Gemeinschaft und menschlichen Respekt. Sie machen mir Mut zum Älterwerden. Ich hoffe, dass mir das gelingt, auch als alter Mensch meine neugewonnene Freiheit auszukosten. Dass ich meine Erfahrung als liebevolle Weisheit einbringen kann – und nicht als griesgrämige Besserwisserei. Dass ich rechtzeitig Einfluss und Macht abgeben kann – und nicht denen, die nachkommen, im Wege stehe. Vielleicht geht es am besten, wenn ich mir sage: Ich muss im Alter das Ganze nicht mehr tragen, die Welt geht nicht unter ohne mich. Ich trage das bei, wozu ich noch in der Lage bin und worauf ich Lust habe. Und vor allem finde ich inneren Frieden – Frieden auch mit allem, was ich gerne anders gehabt oder anders gemacht hätte.

Teil 2
Ich schaue mit viel Hoffnung auf das Alter – und ich bin sehr gespannt: Das kann noch einmal viele Möglichkeiten bringen. Aber ich kenne natürlich auch die andere Seite des Alters – das Alter, wenn es schwer wird. Vielleicht werde ich Hilfe brauchen oder gar pflegebedürftig werden. Ich möchte auch dem zuversichtlich entgegensehen können. Deshalb hoffe ich, dass ich meine Autonomie, meine Würde, mein Selbstbewusstsein nicht verliere. Ich möchte selber entscheiden können, was ich brauche und wie ich mich wohlfühle. Auch und gerade dann, wenn ich auf fremde Unterstützung angewiesen bin, möchte ich selbst entscheiden, ob, wie und wann mir geholfen wird. Ich hoffe sehr, dass meine Würde nicht gebeugt wird, wenn ich Hilfe, Fürsorge und Pflege beanspruchen muss.

Wie gut, dass es engagierte Pflegerinnen und Pfleger gibt, die um die Würde des einzelnen Menschen wissen. Aber was wir brauchen, ist mit Geld und Pflegepersonal allein nicht zu machen. Wir brauchen Phantasie und Einfühlungsvermögen. Ich denke an Mehrgenerationenhäuser, wo sich Alt und Jung gemeinsam treffen und einander stützen; kirchliche Gemeindehäuser, in denen demenzkranke Menschen über Tag betreut werden, wie es schon vereinzelt geschieht; mehr Unterstützung für pflegende Angehörige, denn 75 Prozent pflegebedürftiger Menschen werden zu Hause gepflegt. Wie gut, dass sie in den eigenen vier Wänden bleiben können, auch wenn das für die Angehörigen nicht einfach ist.

Ich finde es bewundernswert, dass viele es voll Überzeugung leben und wissen, dass Liebe und Lastentragen zusammengehören. Gewiss, Gott ist die Liebe. Aber vor allem gibt er Kraft, dass wir einander behüten und begleiten können. Das darf nicht zu einer lästigen Nebensache werden. Das ist mein Gebot, sagt Jesus, dass ihr euch untereinander liebt, gleichwie ich euch liebe. Dieses Gebot hört nicht auf, auch nicht, wenn ich älter werde.

Gerade die Älteren haben oft ihre ganz alten Eltern oder sehr alte Verwandte zu betreuen. Sie machen das oft mit viel Liebe und Geduld. Und sie haben auch mehr Zeit dafür als die Jüngeren, die noch für ihre Kinder zu sorgen haben. Viele Senioren stellen sich außerdem zur Verfügung für Besuchsdienste, für Nachbarschaftshilfe und für ehrenamtliche Aufgaben in Kirchengemeinden und Vereinen. Sie singen mit in Chören oder schreiben historische Berichte für ihren Heimatort. Sie sorgen dafür, dass Büchereien funktionieren und einsame Menschen Besuch erhalten.

Das Lieben und das Lastentragen füreinander gehören untrennbar zusammen. Wo es Menschen gibt, die das nicht nur verstehen, sondern auch leben - und dabei in Bewegung bleiben, da muss uns um die Zukunft unseres Miteinanders nicht bange sein. Und plötzlich spüre ich dabei: Wenn ich einmal älter werden darf, kann ich mich daran beteiligen.

Am Ende lebt die Liebe, sie zählt einzig und allein. Sie rechnet sich mehr als alles andere. Von Herzen wünsche ich Ihnen diese Erfahrung. Und mir auch, wenn ich wirklich alt werde. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3536
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